Der G 8-Prozess als erfolgreiche politische Imagination

Zwischen Bilderproduktion, Rekonstruktion der Linken und radikaler Gesellschaftstransformation
Ulrich Brand

Es ist gelungen. Die lange Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, die sich seit Frühjahr nochmals enorm intensivierte, trug die Anliegen der globalisierungskritischen Bewegung in eine breite Öffentlichkeit und sorgte für innerlinke Verständigungsprozesse. Seit 20 Jahren wurde nicht mehr in einer derartigen Breite kritisch über gesellschaftliche Entwicklungen und Verhältnisse informiert und diskutiert. „Heiligendamm“ ist ein Einschnitt in die Geschichte linker Kritik und Bewegungen in diesem Land; vielleicht sogar mit Auswirkungen auf Nachbarländer. Wie tief und nachhaltig dieser Einschnitt ist, das wird sich zeigen. Deutlich wurde aber: Es handelte sich ein Stück weit um jene Pluralität, die Bewegungen heute benötigen: Gegenseitige Bezugnahme aufeinander, gemeinsames Tun, aber auch Streit und markierte Differenzen; öffentliche Glaubwürdigkeit durch Argumente und scharfe Kritik. Hier fanden öffentliche und linke Lernprozesse statt, die vor einigen Jahren kaum für möglich gehalten wurden. Die Bewegungen sind, so scheint es, auch numerisch gewachsen, denn viele, vor allem junge Menschen haben sich hier erstmals politisch engagiert. Der Umgang mit den Parteien – insbesondere mit der Linkspartei – war entspannt und kooperativ. Insofern war der G8-Prozess in der Tat ein Kristallisationsmoment für eine breite Linke.
Zudem kann meines Erachtens im gesamten Prozess eine Politisierung nach links festgestellt werden. Überraschend war weniger die enorme mediale Präsenz von Attac, sondern die deutlichen anti-kapitalistischen Inhalte und die Bedeutung der Interventionistischen Linken (IL) im Vorbereitungsprozess und auch in der breiten Öffentlichkeit – und zwar nicht nur als Objekt der Razzien, sondern als inhaltlich profilierter Akteur. Ikonisches Beispiel ist aus meiner Sicht, dass das ZEIT-Dossier am 31. Mai „Alt-Sponti“ Thomas Seibert porträtierte. Die Delegitimierung der Proteste ist nicht gelungen. Wer nur auf den Samstag schielt (siehe unten), unterschlägt die Breite und Intensität des langen Prozesses.
Die Globalisierungskritik hat also einen tüchtigen Schritt nach links gemacht und ist vom Establishment mehr denn je aufgenommen worden. Nach Heiner Geißler wäre nun Herbert Grönemeyer der nächste Kandidat auf eine Promi-Mitgliedschaft bei Attac, was wichtig für eine Verbreiterung der inhaltlichen Anliegen wäre. Der Kampf gegen die staatliche und publizistische Meinungsmaschinerie war in der Gesamtbilanz nicht zu gewinnen, doch es ist kräftig gepunktet worden und das könnte wirklich in eine Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse münden. Das bedeutet ganz allgemein, dass es herrschenden Kräften und Institutionen weniger als bisher gelingt, ihre Projekte und Politiken durchzusetzen und nach und nach alternative Projekte entstehen. Denn das steht an und ist das Ziel und ob sich die Möglichkeiten dafür verbessert haben, muss sich noch zeigen.
Zur Woche an der Ostsee selbst. Auf dem „Gipfel“ der Regierungschefs wurde Symbolik wirkungsmächtig: Dass hier die Weltenlenker zusammen kamen, die fünf andere wichtige Regierungen einbanden (Brasilien, China, Indien, Mexiko, Südafrika) und einige afrikanische Präsidenten hinzuholten. „Seht her, wir steuern nicht nur die Welt, sondern holen die aufstrebenden und am stärksten betroffenen Länder hinzu, um gemeinsam mit ihnen die Probleme zu lösen!“ Das war die message und die wurde auch transportiert. Die Bild-Zeitung erklärte die Bundeskanzlerin Merkel zur „Miss World“. Das war nicht zu vermeiden, denn die Inszenierung eines „erfolgreichen G8-Gipfels“ war zu gut geplant – inklusive krasser Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen im Vorfeld, damit es dann auch wirklich etwas zum Versöhnen gab – und die meisten Medien machten eben mit. Dennoch kam hinsichtlich der breiteren gesellschaftlichen Einschätzung durchaus „Unterstützung“ vom G8-Treffen selbst. Die unverbindlichen Ergebnisse wurden kritisiert und unterstrichen die politische Kritik der Protestierenden. Jean Zieglers Prognose bei der Eröffnungsveranstaltung des Alternativkongresses, dies werde der letzte G8-Gipfel sein, wird sich dennoch nicht bewahrheiten.
Neben der Demo, den drei thematischen Aktionstagen und vielen Einzelaktionen waren die Blockaden am Mittwoch und Donnerstag der Kern der Proteste in der Woche selbst. Sie waren wirkungsvoll durch die konkrete Behinderung und die produzierten Bilder. Etwa 13.000 Menschen nahmen an den Blockaden teil, die insgesamt hervorragend organisiert waren (die meisten im Rahmen der „Block-G8“-Initiative.). Allerdings mangelte es den Blockaden an inhaltlicher Ausstrahlung, die auch schwierig herzustellen war. Der mit fast 2.000 Teilnehmenden große, aber medial natürlich nicht so wichtige Alternativkongress war eine notwendige Ergänzung. Am stärksten inszeniert war das große Pop-Konzert am Ende des G8-Gipfels, zu dem Herbert Grönemeyer „eingeladen“ hatte, um die „Stimme für Afrika“ zu erheben. Pop-Polit-Profis wie Bob Geldof und Bono nutzten diese Bühne für eine enorme mediale Aufmerksamkeit (und auch ein wenig für sich selbst).
Neben den genannten Dimensionen wurde die ambivalente Bedeutung der breiten („bürgerlichen“) Öffentlichkeit deutlich. Zum einen wurde wie selten zuvor über die Anliegen der linken Bewegungen und NGOs informiert: über vielfältige Triebkräfte und Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung, über konkrete politische Kampagnen und Alternativen. Zum anderen war die Berichterstattung teilweise sinnentstellend und setzte immer wieder auf Spaltung – die Meldungen der Polizei ohnehin, aber auch die vieler Medien. Herausragende Beispiele sind der von der dpa weit verbreitete angebliche Aufruf von Walden Bello „wir müssen den Krieg in diese Demonstration tragen“, was er weder gesagt hatte, noch so übersetzt wurde (vgl. die Chronologie eines Zitats bei www.stefan-niggemeier.de), sowie die unverschämten Berichte der Polizei über angebliche gewaltbereite und Steine werfende DemonstrantInnen am ersten Tag der Blockaden am Mittwoch. Der beschriebene Sachverhalt könnte jedoch einen positiven Effekt haben. Denn es wurde deutlich, dass auf eine breite „Öffentlichkeit“ nur begrenzt zu setzen ist, wenn sich die Staatsmacht symbolisch wirklich angegriffen fühlt. Die Medien glauben allemal mehr den Polizeiberichten. Dies könnte eine Dynamik auslösen hin zu noch stärkerer unabhängiger Berichterstattung, die in den Mobilisierungen auf Heiligendamm hin wichtig und gut war. Und zu einem noch kritischeren Umgang mit der „breiten Öffentlichkeit“, die gleichwohl entscheidend bleibt.
Die Proteste samt ihren langen Vorbereitungsprozessen sind vorbei und nun stehen wir mitten drin: In der Auswertung, aber vor allem hinsichtlich der Frage des „wie weiter?“. Inwiefern ordnet sich das (gesellschaftliche wie linke) politische Feld neu? Inwieweit wird der G8-Prozess nun wirklich zu einem Prozess der Rekonstitution der Linken im Hinblick auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen?
Poner el cuerpo heißt es in den Bewegungen Lateinamerikas – den Körper einsetzen, allgemeiner: etwas riskieren. Das ist der Fall im Moment des Protests und möglicher Konfrontation, und diese Erfahrung muss übertragen (nicht als persönliche, sondern als kollektive) und ausgeweitet werden auf die Gesellschaft, d.h. als Entwicklung rebellischen Bewusstseins, der praktischen Kritik der Verhältnisse entlang vielen Konfliktlinien, beim Aufbau alternativer Strukturen und der Veränderung bestehender Institutionen. Die schwierige „Übersetzung“ der jüngsten Mobilisierungserfahrungen in die Tagespolitik und in den Alltag – das steht nun an. Das politische Establishment, darüber dürfen die dynamischen Mobilisierungen nicht hinweg täuschen, muss immer noch recht wenig auf Kritik und sozialen Proteste reagieren. Und diese müssen sich in einem Klima von zunehmender Konkurrenz und Angst entwickeln, was einen großen Unterschied zur Entwicklung einer Protestkultur vor vierzig Jahren darstellt. Gleichwohl müssen auch mit „Heiligendamm“ soziale und politische Resonanzen erzeugt werden, die dann zu Dissens, kritischem Nachdenken und Handeln führen.
Bevor ich auf mögliche Zukünfte und anstehende Diskussionen komme, ein paar Bemerkungen zur Demonstration und einem damit verbundenen politischen Problem.

„Gewaltfragen“ und vorschnelle Spaltungsaufrufe
In den Tagen nach der Demonstration am Samstag gab es heftige interne und öffentliche Diskussionen um die Rolle physischer Gewalt, die von Bewegungen ausgeht. War es zuerst die Aggression des „Schwarzen Blocks“, antwortete dieser auf Provokationen der Polizei, hätte die Demo besser von den OrganisatorInnen „gesichert“ werden müssen, um das Steinewerfen zu verhindern? Fast erleichtert ging dann am Donnerstag die Meldung rum (groß bei Spiegel online und in der taz), dass offenbar ein Polizei- oder BND-Provokateur bei den Blockaden am Mittwoch anfangen wollte, mit Steinen zu werfen, enttarnt wurde und dann zur Polizei überlief und dort abtauchte. Mit großem Applaus wurde die Äußerung von Susan George von Attac Frankreich bedacht, dass die Ausschreitungen am Samstag der Regierung in die Hand spielten, denn so konnte sie die enormen Ausgaben und all die Maßnahmen zum Ausbau der „inneren Sicherheit“ rechtfertigen. Wenn es diese nicht gegeben hätte, so George, hätte die Regierung die offene Konfrontation samt den Bildern produzieren müssen.
Die Polizei hat bereits im Vorfeld die Proteste kriminalisiert und bei der Demonstration sowie bei den Blockaden bewusst provoziert – das wird nach zahlreichen Berichten immer deutlicher. Bei der Demonstration selbst hat sie wohl nicht „angefangen“, aber nach Beschreibungen sehr vieler Augenzeugen ohne Not kräftig geprügelt. „Deeskalation“ war das sicherlich nicht. Polizei und Regierung hatten offenbar eher Interesse an Bildern einer eskalierten Demonstration (am Samstag) und weniger an eskalierenden Blockaden während des G8-Gipfels am Mittwoch und Donnerstag. Das mag auch damit zusammen hängen, dass Letztere die mediale Aufmerksamkeit von der Gipfelberichterstattung abgezogen hätte. Neben das Foto von Merkel, Bush und Putin passten keine anderen Bilder. Dies alles muss im Zusammenhang des verstärkten Abbaus von Bürgerrechten und sozialen Rechten in diesem Land verstanden werden. Selbst ernannte „Sicherheits“-Politiker nutzten und nutzen die Proteste in Rostock und Heiligendamm dafür, um einen Ausbau des Sicherheitsapparates zu fordern. Sabine Christiansen nimmt den Ball publizistisch auf und stellt die Polizei als die „Prügelknaben der Nation“ dar. „Rostock“ wird längst von den herrschenden Medien und von staatlicher Seite instrumentalisiert, um ein politisches Programm durchzusetzen.
Der Aspekt der Aufrüstung Innerer Sicherheit und ihrer Legitimation bedarf der weiteren Analyse und Diskussionen. So wichtig diese Dimensionen sind: Die Bilder vom Samstag rechtfertigten nicht die Einschätzung, dass alles nur ein Unfall war von einigen Durchgeknallten oder ausschließlich eine Provokation der Polizei. Für die Einschätzung der Dynamik der Demonstration reicht die Analyse der Staats- und Polizeistrategien nicht. Es ging – in einer unglaublich zugespitzten Situation, denn das Ganze drohte zu kippen und niemand wusste, was nun bei den Blockaden am Mittwoch und Donnerstag passieren würde – um die Durchführung der Blockaden und um ein positives Image der Proteste. Die Interviews und Meldungen überschlugen sich: Distanzierungen allerorten, mit „denen“ nicht mehr, sogar die Bereitschaft der Denunziation der „Gewalttätigen“ durch einen Demo-Organisator. Kritisiert wurde mitunter auch eine „falsche Toleranz“ im Vorfeld, da die Frage physischer Gewalt nie gestellt worden sei, sondern im Ringen um ein breites Bündnis hinten angestellt wurde. Deshalb sei es zu einer Instrumentalisierung der friedlichen Proteste gekommen. Doch selbst wenn es expliziter thematisiert worden wäre, was hätte das praktisch bedeutet? Hätten die Autonomen nicht zur Demo zugelassen werden sollen?
Mit etwas Abstand und zwischen den unterschiedlichen Spektren und in einer kritischen Öffentlichkeit sollte aber sorgfältig diskutiert werden. Um das klar zu stellen: Die Unverantwortlichkeit vieler Protestierender gegenüber anderen (gegenüber PolizistInnen und anderen Protestierenden) beim Steinewerfen ist inakzeptabel – aus gesundheitlichen wie auch aus politischen Gründen. Die Ablehnung physischer Gewalt gegen andere Personen, wenn man selbst nicht bedroht ist, ist die bottom-line emanzipatorischen Handelns. (Man muss nicht gleich die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols stark machen, um „Autonomen-Gewalt“ zu kritisieren, wie Michael Jäger im Freitag, 8. Juni.)
Das interessanteste Moment nach dem Samstag der großen Demonstration war wohl, dass sich entgegen der Aussagen der Bewegungs-„RepräsentantInnen“ – inklusive der Forderung, die Blockaden abzusagen – die Basis nicht spalten lassen wollte. Und die Distanzierungen können nicht die politische Tatsache verdecken, dass ein breites autonomes Spektrum existiert, das Teil der Proteste ist. Die Autonomen haben sich nicht „drangehängt“ oder die Anti-G8-Mobilisierungen instrumentalisiert (allerdings einige von ihnen die Demo aus meiner Sicht sehr wohl), sondern waren Teil davon – und zwar ein ziemlich dynamischer. Die Frage ist nicht neu, aber eben relevant: Was steht hinter der als notwendig erachteten Konfrontation mit Staat und Kapital für eine Weltsicht und – noch wichtiger – welche Erfahrungen drücken sich darin aus?
Es gab sicherlich viel situative und mackermäßige Lust auf Gewalt bei der Demo (vgl. ein anonymisiertes Interview in der taz vom 4. Juni), aber eben gewollt von anarchistischen und autonomen Gruppen. Dass sie damit die Anliegen anderer Spektren konterkarieren, scheint ihnen uninteressant. Insofern waren die gut gemeinten Versuche der Interventionistischen Linken, diese Spektren einzubinden, ein Versuch, der vielleicht scheitern musste. Ohne dass ich in die internen Debatten involviert bin, muss sich die IL fragen, ob sie nicht einem Absprachemythos aufgesessen ist. Hätte die Demonstration wirklich kontrolliert verlaufen können bzw. hätten sich alle in eine andere Demonstrationsdynamik einbinden lassen? Was im Vorfeld vielleicht auch gefehlt hat, waren Absprachen, wie man mit „Krawallen“ öffentlich umgeht, ohne dem Zwang zum spaltenden Bekenntnis zu erliegen. Es sollte auch nicht der Gefahr erlegen werden, ein „vernünftiges“ post-autonomes Spektrum (Teile der IL, wobei diffus ist, was das bedeutet) von „irrationalen“ Autonomen abzugrenzen. (Das ist alles nicht überheblich gemeint, sondern um ein Problem zu benennen, mit dem umgegangen werden muss!)
Der zentrale Widerspruch anarchistischer und autonomer Gruppen bleibt, dass sie nicht Teil des Spektakels sein wollen – was sie anderen Spektren mit deren Blick auf eine breite Öffentlichkeit unterstellen –, es aber bei solchen Aktionen definitiv sind und dass sie die Aufrüstung der Staatsmacht legitimieren, die sie bekämpfen wollen. Zudem scheint der Staat recht gut kalkulieren zu können, mit welchen Provokationen er bestimmte Spaltungen erzeugt. Das droht die Bewegungen und andere kritische Kräfte zu schwächen.
Dennoch: Eine Stärkung der Linken kann nicht darüber geschehen, dass apodiktisch für den Ausschluss autonomer Positionen plädiert wird. Ich vermute (ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen!), dass Menschen im Schwarzen Block mitlaufen und vielleicht sogar agieren, die sich ansonsten in ähnlichen politischen Zusammenhängen bewegen wie viele der anderen Demonstrations-TeilnehmerInnen.
Meines Erachtens müssen diese – keineswegs neuen – Sachverhalte in der aktuellen Situation diskutiert werden. Das kann mit der Orientierung hin zu einer „post-autonomen Linken“ einher gehen oder anderweitig laufen. Es sollte aber nicht auf die „Gewaltfrage“ und jene der Instrumentalisierung reduziert werden; der Schwarze Block sollte nicht zum amorphen Gegenstand von Abgrenzungsdebatten werden. Wie kommen wir also darum herum, einen Teil der linksradikalen Szene, die eine lange theoretische und praktische Tradition hat, einfach auszugrenzen und einen politischen „Bruch“ zu fordern?
Dann geht es um Einschätzungen, inwieweit über Öffentlichkeit bzw. Spektakel gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden können. Jene (inklusive meiner selbst), die hegemoniepolitisch argumentieren, kommen nicht um die Tatsache herum, dass Hegemonie mit Zwang gepanzert bleibt und dass emanzipatorische Veränderung auch über Brüche geschieht. Ich selbst würde sagen, dass es durchaus um ein „reflektiertes Spektakel“ geht. Aber dabei sollte man ein positives Image in der Öffentlichkeit nicht mit dem Unterlaufen der bestehenden neoliberalen und imperialen Hegemonie und dem Aufbau alternativer Lebensformen verwechseln. Der Kampf um die Köpfe und Herzen ist komplexer und deshalb sollten die jüngsten Proteste auch keineswegs überschätzt werden. Die Kultur des Marktes, des an Konkurrenz orientierten Individualismus und die Kultur der Angst, die emanzipatorisches Denken und Handeln so schwierig machen, sind damit nicht beseitigt. Wie kann diesbezüglich die G8-Mobilisierung fruchtbar gemacht werden unter Einschluss linksradikaler Perspektiven (und in scharfer Abgrenzung von unnötiger physischer Gewalt gegen andere Menschen)? Ein wichtiges Feld der Kooperation könnte der Kampf gegen den Abbau der Bürgerrechte sein.

Wie weiter?
Ich komme zu keiner abschließenden Einschätzung, denn die Interpretation dessen, was der G8-Prozess war, ist Teil politischer Auseinandersetzungen und Imaginationen des Politischen. Mit Gramsci gesprochen geht es meines Erachtens um den Optimismus des Willens und den Pessimismus des Verstandes, die dann auch zu der ambivalenten Einschätzung der Anti-G8-Mobilisierungen in diesem Artikel führen. Wo öffnen sich Räume, was muss geschehen? Die Politisierung und (Selbst-) Organisierung von Menschen ist ein derartig vielfältiger Prozess, dass darüber nur begrenzt im Sinne eines „wie weiter?“ reflektiert werden kann. Daher erfolgen einige Bemerkungen für weitere Diskussionen in verschiedenen Spektren.
Mobilisierungen setzen darauf, auf sich selbst zu vertrauen. To make a difference. Und die durch Heiligendamm markierte Differenz ist enorm. Gleichwohl bekam dieser Prozess eine Schlagseite, den man als Bewegungsfetischismus bezeichnen könnte und der sich insbesondere in der Flugschrift G8extra repräsentierte. Es wurde der Eindruck erweckt, dass „wir“ nur stark genug sein müssen, um das kapitalistische System buchstäblich über den Haufen zu rennen. Kommunismus. Die Fokussierung auf außerinstitutionelle Bewegung machte in Zeiten der Mobilisierung Sinn, müsste aber meines Erachtens nun deutlich ausgeweitet werden (etwa um die Auseinandersetzungen um Studiengebühren oder gewerkschaftliche Kämpfe in Unternehmen), ohne einseitig auf Repräsentation zu setzen, sondern um das Selbst-Vertrauen weiter zu entwickeln. Die Rolle von NGOs und kritischer Wissenschaft spielt hier genauso eine Rolle wie die drängende Frage nach der Position der Gewerkschaften. Es geht daher um viel stärkere Verknüpfungen emanzipatorischer institutioneller wie außerinstitutioneller Strategien und Praktiken.
Damit verbunden muss die „Organisierungsfrage“ schärfer konturiert werden, in die eben die Erfahrungen der letzten Monate einfließen. Denn die Mobilisierungen nach Heiligendamm zeigten auch, dass und wie viele unorganisierte Menschen daran teilnahmen. Organisierung läuft wahrscheinlich nicht immer nach dem durchaus erfolgreichen Modell von Ortsgruppen und bundesweiten Arbeitsgruppen wie bei Attac, aber es bedarf wohl schon der Anstöße und die lokale Gruppe übergreifende Zusammenhänge.
Eine der dringendsten Aufgaben linker Analyse ist etwas, das im Mobilisierungsprozess unterging. Es wurde kaum der Versuch unternommen, zu einer Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklungen und Kräfteverhältnisse hierzulande zu kommen (deutlich etwa an der zentralen Mobilisierungsbroschüre „Die Deutung der Welt“ der Redaktionen von analyse & kritik, Fantômas, arranca! und so oder so). Ein Beispiel: Die abstrakte Rede von der notwendigen „antagonistischen Politik“ (in G8extra und insbesondere durch die IL) lässt, auch wenn man sie dauernd wiederholt, die Frage unbeantwortet: Was ist historisch-konkret der Antagonismus? Macht der Begriff Sinn oder peppt er einen unausgesprochenen Hauptwiderspruch auf? Das ist eine entscheidende Frage und deren – wohl keineswegs einheitliche – Beantwortung muss ein kollektives Unterfangen sein. Aus der Analyse der gegenwärtigen Situation heraus können Korridore und Felder politischen Handelns bestimmt und in unterschiedliche Praxen „übersetzt“ werden. Dazu gehört auch das diskursiv-symbolische Terrain.
Die inhaltlich-strategischen Probleme wurden etwa daran deutlich, dass es kaum eine emanzipatorische Besetzung des Themas Klima und Energie gibt. Die Orientierungen an Effizienzgewinnen und ökologischer Modernisierung, die von Regierungsseite propagiert werden, sind bis weit in die Linke hinein akzeptiert. Die einzige Kritik an der Klimapolitik ist, dass sie nicht weit genug gehe. Eine Verknüpfung der Umweltkrise, und hier paradigmatisch dem Treibhauseffekt, mit sozialen Krisen sowie Macht- und Herrschaftsfragen gelingt kaum.
Zur Frage von Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Veränderung: Die Entstehung anderer Formen des Zusammenlebens und von Politik, neuer Produktions- und Konsumnormen bedarf der Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und damit auch der bürgerlichen Öffentlichkeit. Dennoch ist das Politikmodell „gute Öffentlichkeit = immer mehr Menschen werden überzeugt = so kann eine linke Hegemonie entstehen“ unterkomplex. Es geht nicht nur um gute Argumente sowie geistige und moralische Überlegenheit, sondern um Machtfragen, die höchst asymmetrisch gestellt werden. Radikalere Veränderungsvorstellungen sind aktuell in einer breiten Öffentlichkeit nicht vermittelbar. Deshalb sollten sie aber trotzdem weiterhin entwickelt und gelebt werden. Was bedeutet das konkret? Wie konstituieren sich andere Lebensweisen und Politikformen, die mit den bestehenden brechen.
Im Anschluss an die oben angestellten Überlegungen: Wie kann man verhindern, dass eine breite und sich produktiv verständigende Linke in bestimmten Situationen instrumentalisiert wird? Was bedeutet „reflektiertes Spektakel“, das ja nur ein kleiner Teil jener vielfältigen Anstrengungen ist, Machtverhältnisse allerorten zu verändern und aufzulösen, Kräfteverhältnisse zu verschieben und konkrete Alternativen zu entwickeln?
Gefüllt werden muss hier auch, was man als „imperiale Leerstelle“ bezeichnen könnte. Inwieweit können in einer metropolitanen Gesellschaft wie der bundesdeutschen mit ihrer komplexen Integration in weltpolitische und -wirtschaftliche Zusammenhänge Lebensformen derart radikal verändert werden, dass sie weltgesellschaftlich verallgemeinerbar sind? Die Thematisierung der Klimaerwärmung und der energetischen Ressourcen öffnet hier Spielräume, die inhaltlich und politisch-strategisch gefüllt werden müssen.
Schließlich das Verhältnis zu Parteien. Eine Woche nach dem Ende der G8-Proteste bestimmte ein anderes Bild linker Politik die Medien: der Zusammenschluss von WASG und PDS zur Linkspartei. Auch auf diesem Feld wird die Pluralität weiter entwickelt werden müssen. Die Namensgebung der Partei „Die Linke“ stößt ob ihres begrifflichen Repräsentationsanspruchs vielen parteikritischen Linken auf. Dennoch spielen die Linkspartei und mit Abstrichen die Grünen (obwohl deren Instrumentalisierungs- und Profilierungsstrategie vielen zuwider ist) natürlich weiterhin eine wichtige Rolle. Wie kann innerhalb der Partei(en), in den Bewegungen und in der Öffentlichkeit ein Unterordnungsverhältnis vermieden werden? Der intensive Mobilisierungsprozess müsste der Partei gezeigt haben, dass die Bewegungen sehr eigenständig sind und sich nicht einbinden lassen. Doch es stehen auch inhaltliche Diskussionen an.
Eine Fixierung auf den Staat kann man der Bewegung insgesamt nicht vorwerfen (eine Bereitschaft zur Unterordnung unter eine Partei schon gar nicht), obwohl die Fokussierung von G8, d.h. auf Regierungen, ambivalent bleibt. Die sich hoffentlich verstetigende und ausweitende Bewegung darf nicht in die Falle gehen, die über den Bezugspunkt der Mobilisierungen – G 8 – sperrangelweit offen steht: Dass sich Politik zuvorderst doch am Staat ausrichtet, der „die“ Globalisierung bzw. ihre negativen Auswüchse regulieren soll, und nur hier die wirklich wichtigen Entscheidungen gefällt werden. Das wäre ein Rückschritt zu einem etatistischen Politikverständnis, das weder eine linke Partei noch linke Bewegungen als sinnvoll erachten können.
Exemplarisch für solch eine Falle ist ein Kommentar von Mathias Greffrath in der taz (6. Juni): Die Bewegung solle ihren Erfolg anerkennen, den aus seiner Sicht peinlich und unproduktiv gewordenen „rituellen Karneval“ symbolischer Proteste unterlassen und nun die Umsetzung durch die politischen Exekutiven vorantreiben. Der Staat soll’s dann doch richten. Der Kommentar deutet darauf hin, dass diese Staatsillusion immer wieder durch die Hintertür hereinzukommen droht, obwohl klar ist, dass der globale Kapitalismus sich komplexer reproduziert. So wichtig der Hinweis ist, dass die Proteste der Vermittlung in gesellschaftliche Institutionen bedürfen, so wenig dürfte sich die Bewegung auf eine Perspektive einlassen, es gehe nun nur um den Druck auf die Regierung. Wäre das der Fall, dann würde Heiligendamm einen politischen Rückschritt darstellen.
Eine Kurzversion des Textes erschien in “analyse & kritik”, Juni 2007. Für Anmerkungen zu früheren Versionen danke ich Frauke Banse, Michael Brie, Oliver Brüchert, Moe Hierlmeier, Armin Kuhn, Caren Kunze, Jörg Nowak, Helen Schwenken, Gerd Steffens, Heinz Steinert, Anne Tittor und Markus Wissen