Seltsam war das schon

FAZ 10. Juni 2007

„Ist das ein Sherpa?“ Sherpas, Gipfelführer im Himalaja, sind in Mecklenburg-Vorpommern an sich selten, aber wir sind ja in einem neuen Land namens GeeAcht, und da ist alles anders, es wimmelt von Sherpas, so nennt man hier, in diesem neuen Land, Spitzenbeamte, die die Regierungschefs auf solche Gipfel vorbereiten. Der gewöhnlich sehr gut informierte Kollege neben mir rätselt weiter, denn ich weiß es auch nicht. Wir sitzen, es ist Freitag Vormittag, im sogenannten Briefing Room Nummer 5 und haben kurz den Durchblick verloren. Doch bald kapieren wir: Der ältere Herr, der zu uns spricht, ist Abdoulaye Wade, der Staatspräsident Senegals. Eine vollbesetzte erste Reihe senegalesischer Journalisten, dahinter leere Stühle, ein paar Mexikaner, kaum Weiße.

Präsident Wade hat keine gute Laune. Trotz des Wetters. Obwohl man ihn eingeladen hat zu den Großen Acht. Obwohl so viel von Afrika die Rede ist auf diesem Gipfel. Aber wovon da genau die Rede ist, das passt ihm nicht: „Afrika ist nicht krank. Ich bin nicht krank. Wir sind nicht bloß ein Kontinent von Aids und Malariakranken, ich bitte Sie!“ Präsident Wade möchte über andere, ihm wichtigere Dinge reden, und er hat gut reden, denn in seinem Land sind weniger als ein Prozent HIV-positiv, sagt er. Aber es ist mehr, ihm behagt die ganze Vorgehensweise nicht, eingeflogen zu werden und festzustellen, dass alle Themen schon längst da sind, dass alle wissen, was Afrika braucht. Lieber schildert er einen Einfall, den er mal hatte und an dem ihm viel liegt: den Regen der afrikanischen Regenzeit in Staubecken zu sammeln und darin Fische zu züchten, Fische für die Frauen zum Verkaufen.

Ein Land der guten Menschen

Raum 5 ist begeistert, denn es klingt so schön und elementar, fast biblisch. Sein zweites Projekt ist schon ambitionierter, er will einen grünen Streifen quer durch Afrika, von Dakar bis Djibouti ziehen, also die Sahelzone im Süden begrenzen, um die fortschreitende Verwüstung aufzuhalten. „Das nenne ich die große grüne Mauer.“ „Also“, fügt er fast beschämt an, „die Idee ist von Obasanjo (dem ehemaligen Präsidenten Nigerias), aber der Name, der ist von mir.“ Er resümiert die Lage: „Wir sind ein kleines Land ohne Bodenschätze, wir brauchen Hilfe, Straßen zum Beispiel und Flughäfen. Unsere Leute sind gesund, wollen was arbeiten, was unternehmen, da kann man doch nicht nur über Seuchen reden.“

Und ob. Und über Geld gegen Seuchen, Medikamente gegen Seuchen, dann über Entschuldung und das Klima, über Abrüstung. GeeAcht ist das Land der guten Menschen gewesen, bloß dieser afrikanische Präsident scheint es noch nicht richtig zu begreifen.

„Ich brauch was mit Afrikanern, egal was“

Wesentlich schärfer sah es ein deutscher Kameramann, der am Stand des Bundespresseamtes einen besseren Standplatz für sein Team erflehte: „Darf ich mal offen sein? Es ist so: Ich brauche was mit Afrikanern, egal was.“ Die Großen Acht, das war der Subtext jeder einzelnen offiziel-len und inoffiziellen Mitteilung, sind gut. Sie werden sich in Kürze in die Guten Acht umbenennen. Und wer gut ist, der kümmert sich um Afrika.

Selbst George Bush schaffte einige Sätze zur Bedeutung von Netzen, Moskitonetzen, die man den Afrikanern geben, mit denen man sie wirksam gegen Malaria schützen könnte. Er sprach nicht vom Krieg gegen den Terror, nicht vom Sieg der Freiheit, von der Ausmerzung des Übels und längst nicht mehr über sein Lebensthema vor dem 11. September, nämlich Steuersenkungen für die Reichen. Ach ja, und über Klimaerwärmung hat er sich dann ja auch noch zwei Sätze abmühen müssen, in diesem neuen Land GeeAcht, das war ganz schön viel Kreide; kein Wunder, dass ihm tags darauf schlecht war.

Die gehören doch alle zu Murdoch

GeeAcht ist ein belagertes Land gewesen. Sie waren überall: an den Straßenkreuzungen, den Bahngleisen, auf den Feldern und in den Wäldern. Der offizielle Ablauf war gehörig gestört und konnte nur mit den letzten Mitteln - Hubschraubern, Marineschnellbooten und enormen Kosten - durchgeführt werden. Dazu kam ein permanentes Gefühl der Unsicherheit mitten im größten Polizeieinsatz des Landes. Am Abend des ersten Gipfeltages saß eine der Dolmetscherinnen ganz fertig in der kleinen Bahn, die die Außenwelt mit Heiligendamm verbindet. Die Dame war am Morgen mit dem Hubschrauber aus Kühlungsborn eingeflogen worden und hatte dabei Todesängste ausgestanden. Nun schaute sie panisch aus dem Zugfenster, denn irgendein böser Sicherheitsmensch hatte ihr zugeraunt, im Wald seien achthundert von den bösen Jungs, die es über den ersten Zaun geschafft hätten, womöglich würden sie den kleinen Zug, die Molli, angreifen.

Selbst die Zufahrt ins benachbarte Kühlungsborn wurde behindert, die Jungs und Mädels legten sich einfach auf die Straße. Es war die Zufahrtstraße zu dem riesigen Pressecenter, in den Wagen saßen vor allem Journalisten. Auch an mein Taxi hat einer geklopft: „Wir suchen Terroristen. Richtige Terroristen, die mit schwarzen Anzügen.“ Es ergab sich ein kurzes Gespräch, in dem ich von einem jungen Briten darüber belehrt wurde, dass alle Medien weltweit von achtundzwanzig Personen beherrscht werden und die Zeitungen fast alle Rupert Murdoch gehören. Diese Zeitung gehöre nicht Murdoch, entgegnete ich, da wollte er wissen, welchem von den 27 anderen. Keinem von denen, sondern sich selbst, sagte ich. Das fand er gut, er streckte mir die Hand entgegen, auf seinem Unterarm hatte er, wie so viele Gipfelblockierer, mit einem Edding die Telefonnummer des sogenannten Ermittlungsausschusses geschrieben, bei dem man Polizeiübergriffe melden konnte. Doch bevor der Handschlag an der Straße zu weiterer Fraternisierung führte, kam ein deutscher Protestler angeradelt und zischte ihm zu, er solle nicht so naiv sein, alle würden behaupten, nicht zu Murdoch zu gehören, und dann sei es doch so.

Jeder will es gewesen sein

Der Ablauf des Gipfels war großes, unfassbar großes militärisch-protokollarisches Staatstheater, aber die Ideen und intellektuellen Vorgaben kamen von Bono und Sir Bob sowie den unübersehbaren, unüberhörbaren, hochmobilen, nie berechenbaren Protestlern. Die acht Gipfelpolitiker und ihre Gäste waren konzeptionell und thematisch in der Defensive. Ihnen bleibt das Wort. In GeeAcht herrscht eine eigene Sprache, eine Art Dialekt des Englischen, ein von häufiger Wiederholung zusammengeschnurrter Katechismus des Humanitären: „global challenges“ kann man zu zwei oder drei gemurmelten Silben zusammenschnurren lassen, ebenso „climate change“ (clmtschäindsch) und „major emittor“.

Der Glaube an die magische Kraft von Worten ist dennoch groß in GeeAcht. Nicolas Sarkozy kam und wies darauf hin, dass er es war, der das Wörtchen seriously in den Klimapassus „seriously consider“ (und zwar die Halbierung der Emissionen bis 2050) habe einfügen lassen. Angela Merkel schrieb sich den Kompromiss hingegen ganz zu. Am nächsten Tag sprach die „New York Times“ vom Kompromiss, den die Vereinigten Staaten erwirkt hätten, und der „Guardian“ wusste: Es war Tony Blair.

Die Guten Acht

Magie der Worte: In GeeAcht darf nicht geschwiegen oder gestottert oder gezögert werden. Jedes Thema der Erde hat hier das Recht auf ein wohltuendes Wort. Wer auf Gipfelebene mitspielen will, sei es als Chef oder nur als Sherpa, muss, ohne mit der Wimper zu zucken, Fragen zur Abwertung des Yuan, zum Kosovo, zu Darfur, zur Stellung der Schwulen in Russland, zur Beschaffenheit malariaabwehrender Netze, zu aserbaidschanischen Radaranlagen, den CO2-Werten von 2050, der Regulierung von Hedgefonds, dem Urheberrecht im digitalen Zeitalter und dem Schutz der Wälder Kongos beantworten. Und so tun, als sei das immer schon sein Hobby gewesen.

GeeAcht ist ein Traumland. Warum wollen die Gipfelblockierer es behindern, abschaffen, verscheuchen? Sie haben viele Gründe, einer davon ist der amerikanische Präsident, er zieht den Unwillen der Welt auf sich. Der Irakkrieg hat ihn verschlissen und leider auch den so begabten Tony Blair. Er war übrigens einer der wenigen verbliebenen sozialdemokratischen Regierungschefs, aber in diesen Links-Rechts-Kategorien denkt interessanterweise kein Mensch mehr, man hätte ja auch alle Mühe, die klima-, menschenrechts- und afrikabeseelte Gastgeberin mit der alten bundesrepublikanischen CDU Helmut Kohls zusammenzubringen. Aber auch die Gipfelgegner denken nicht in politischen Kategorien: Die Armut abschaffen ist keine linke, sondern eine religiöse Forderung. Armut ist, wie Terror, ein Begriff, den man nicht loswerden wird. Man kann Lagen verbessern, Chancen erhöhen, Hilfen optimieren, aber das ist etwas anderes. Das wollen ja schon die Guten Acht.

Fleißig bekämpft und wegberichtet

Der Regionalexpress zurück nach Berlin war ein rollendes Lager von müden Blockadeveteranen. Ihre Beine lagen im Gang übereinander. Es war sehr heiß, während man durch die grünen Märchenlandschaften Brandenburgs fuhr, viele schliefen, die anderen summten gedankenverloren ihre Abenteuer, Formen zum Erzählen ausprobierend, noch ihre Enkel werden sie damit behelligen.

Ein sehr dünner Italiener schwärmte von der idealen Beschaffenheit des Ortes: In den Wäldern habe die Polizei ihnen gar nicht folgen können, zu viel Ausrüstung am Körper, und die Felder mit dem hohen Korn seien ein Geschenk gewesen. Er freute sich. Was für ein Gipfel, was für eine Blockade, aus der Dialektik wurde schließlich eine Synthese, eine rundum geglückte Sache, kaputt und verschwitzt stiegen die Protestler in Berlin aus, da standen auch viele Polizisten herum, aber ohne Kampfanzug, und guckten grimmig, die Protestler hingegen, die tagelang ganz andere Kräfte, mehr und besser ausgerüstete Beamte genarrt hatten, lächelten sie nur milde an. Der italienische Aktivist fasste es dann noch einmal für seine französische Genossin zusammen: „Ils ont bien travaillé, les allemands.“

Fleißig das flüchtige Land GeeAcht errichtet, bekämpft, durchverhandelt und wegberichtet, da hat er recht, und alles für ein Wort: seriously. Seltsam war das schon.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10. Juni 2007