Zellen und Zahlen

freitag 15. juni 2007

Steffen Vogel
MOMENTAUFNAHME - Gitterkäfige für Demonstranten, Polizisten im Autonomen-Look, Blockaden am Zaun - welche Bilder bleiben vom Protest?
Rechtsanwalt Martin Lemke steht im Rostocker Industriegebiet und wartet. Eine lange Protestwoche neigt sich dem Ende. Die Sonne brennt, am Himmel dröhnen wie stets Polizeihubschrauber. Martin Lemke gehört zum Legal Team, einem losen Zusammenschluss aus etwa hundert Anwälten, die den Gipfelgegnern in Rechtsfragen zur Seite stehen. Jetzt will er zu seinen Mandanten, wird aber nicht vorgelassen. Über tausend Globalisierungskritiker hat die Polizei während der G 8-Proteste zeitweilig in so genannten Gefangenensammelstellen (Gesa) inhaftiert. Eine Sonnenbrille oder ein schwarzer Kapuzenpulli im Gepäck - diese angeblichen Vermummungsutensilien können eine Haft von 24 Stunden oder länger nach sich ziehen. Um Strafverfolgung geht es in den wenigsten Fällen, meist werden Gipfelgegner präventiv arretiert. In der “Gesa Industriestraße”, wo Lemke wartet, herrschen Bedingungen wie in der Massentierhaltung. Eine Siemens-Lagerhalle ist in etwa 25 Quadratmeter große Käfige unterteilt, in die bis zu 20 Menschen gepfercht werden. In den Verhauen besteht keinerlei Intimsphäre: Wände gibt es nicht, nur Metallstäbe und ein Drahtgitter über dem Kopf. Den ganzen Tag brennt Licht, alle Zellen werden mit Videokameras überwacht. Dünne Isomatten müssen als Bett dienen, Wasser erhalten die Inhaftierten nur auf Nachfrage, jeder Schluck muss protokolliert werden, ebenso der Gang zur Toilette. Duschen ist verboten. Die Anwälte des Legal Teams werden unter fadenscheinigen Begründungen Stunden lang nicht zu den Gefangenen vorgelassen. “Kalkül”, vermuten die Juristen und beklagen die “menschenunwürdigen Bedingungen” in der Gesa. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein hat Anzeige wegen Freiheitsentziehung im Amt erstattet: Mehrere Globalisierungskritiker haben noch Stunden in ihren Zellen verbringen müssen, als Richter schon ihre unverzügliche Freilassung angeordnet hatten.

Wird ein heimlich aufgenommenes Foto dieser Käfige unter Kunstlicht im Gedächtnis bleiben? Oder werden andere Bilder die Erinnerung an die Protesttage an der Ostsee bestimmen? Die allgegenwärtigen Aufnahmen von der Auftaktrandale bedürfen wohl einer Neubewertung. Von tausend Verletzten ist schon lange keine Rede mehr, die Schreckenszahl ist weit nach unten ins Unbestimmte korrigiert worden. Zwei stationär behandelte Beamte meldet die Polizei, dazu Prellungen und Beschwerden, die das eigene Tränengas verursacht hat. Von den Demonstranten weiß man nichts Genaueres, viele haben aus Angst vor der Polizei die Krankenhäuser gemieden. Pünktlich zur Abschlusskundgebung muss die Sondereinheit Kavala zudem einräumen, eine ungenannte Zahl Beamte habe sich während der vergangenen Woche in zivilem Dress unter die Gipfelgegner gemischt. Ein Bremer Polizist ist zwei Tage zuvor aus einer Blockade gedrängt worden: Die schwarze Kapuze tief ins Gesicht gezogen, wollte er Augenzeugen zufolge Demonstranten zu Steinwürfen aufwiegeln. Die Kavala bestreitet dies: Der getarnte Polizist habe bloß Straftaten melden sollen. Kurz zuvor hat ein Sprecher derselben Einheit den Einsatz von Zivilpolizisten noch als “inakzeptabel und unverhältnismäßig” bezeichnet. Genau deshalb verlangt eine Frage nach Antwort: Hat allein der kräftig dämonisierte Schwarze Block die Auseinandersetzungen von Rostock provoziert? Oder sind ihm ein paar Polizisten zur Hand gegangen wie vor sechs Jahren in Genua?

Fest steht: Das Programm ist gegen Ende der Woche ein anderes. Wurde zu Beginn ein Actionfilm gegeben - “wie im Krieg” titelte der Boulevard nach der Demo - läuft jetzt eine Sommerkomödie. Vielfarbige Menschenschlangen ziehen durchs hüfthohe Gras zum Zaun, die Polizei blickt düpiert hinterdrein. Die so genannte Fünf-Finger-Taktik ist aufgegangen: Gut koordiniert schwärmen die Demonstranten aus, aufgeteilt in Bezugsgruppen von etwa zehn Menschen, und umgehen die Straßensperren Richtung Heiligendamm. Zum ersten Mal seit den Protesten in Seattle 1999 ist ein Gipfel auf dem Landweg nicht mehr zu erreichen. Zwar raunt die Polizei, bei den Blockaden seien Vorräte an Pflastersteinen - Molotowcocktails gar - gesichtet worden. Zahlreiche Medien geben das pflichtschuldig und oft ungeprüft weiter. Bösartige Gerüchte machen die Runde: Demonstranten würden Kartoffeln mit Nägeln spicken und gegen die Einsatzkräfte schleudern wollen, heißt es. Doch bestimmen andere Bilder die Wahrnehmung dieser Blockaden: Hier clevere, fantasievolle Demonstranten, unter denen sich am ersten Blockadetag eine selten erlebte Euphorie breit macht, dort schwer gepanzerte Einsatzkräfte, die zuweilen auf Sitzende einknüppeln.

http://www.freitag.de/2007/24/07240403.php