Gipfel in der Strandburg

Zeit 18. Mai 2007

Von Martin Klingst
Auch wenn Autonome zum G8-Treffen mobilisieren: Der Staat darf Protest nicht unterdrücken.

Noch knapp drei Wochen sind es, bis sich am 6. Juni in Heiligendamm die Staats- und Regierungschefs der acht größten Industrieländer treffen, um über die drängendsten Probleme der Erde zu beraten. Die Uhr läuft, und Veranstalter wie Gegner des G8-Gipfels rüsten auf. Nicht nur rhetorisch.

Die Bilder dieser Tage rufen ungute Erinnerungen wach: Der viele Kilometer lange, mit Kameras bewehrte Eisenzaun gemahnt an Brokdorf und Wackersdorf, wo sich in den achtziger Jahren Demonstranten und Polizei an den Schutzwällen eines Atomkraftwerks und einer Wiederaufbereitungsanlage erbitterte Schlachten lieferten. In Heiligendamm schirmen sich die Mächtigsten dieser Welt drei Tage lang mit Stahl und Stacheldraht gegen den Protest da draußen ab.

Ungute Erinnerungen wecken aber ebenso die militanten Aufrufe gewaltbereiter Linksextremisten wie auch die Großrazzia der Polizei. 900 Beamte mobilisierte die Staatsmacht in der vergangenen Woche, um 40 Wohnungen und Treffpunkte der »Interventionistischen Linken« und anderer Gruppen auszuheben. Diese Aktionen lassen Seattle 1999 und Genua 2001 wiederaufleben, wo internationale Wirtschaftsgipfel in Chaos und Gewalt zu versinken drohten.

Selbstverständlich hat der Staat Sicherheit zu gewährleisten. Eine gute Polizei schaut deshalb voraus und trifft Vorkehrungen dafür, dass die Begegnung der Acht möglichst störungsfrei verläuft. Man muss nicht an den Deutschen Herbst 1977 denken, um vor den Folgen einer anfänglichen Verharmlosung linksextremer Gewalt zu warnen.

Auch wenn auf Versammlungen militanter G8-Gegner ehemalige RAF-Terroristen auftreten und krude Solidaritätsadressen sprechen sind selbst zur Gewalt neigende Autonome noch keine neue Rote Armee Fraktion. Doch in einigen von ihnen steckt genügend Zerstörungswut, um Menschenleben zu gefährden. Die gegen Politiker, Industrielle und Wirtschaftsforscher gerichteten Brandanschläge der jüngsten Zeit zeugen davon, selbst wenn die Attentäter in erster Linie auf Autos und Gebäude zielten. Deshalb sollte man auch die sogenannte Militanzdebatte unter einigen wenigen Gipfelgegnern nicht als Kinderei abtun. Sie wollen nicht über den Sinn dieses Welttreffens debattieren, sie wollen die Versammlung und die dort Versammelten selbst attackieren.

Damit werden sie zu Gewalttätern, denen man Einhalt gebieten muss, aber noch nicht zu Terroristen. Doch diesen Verdacht wollte die massive Polizeiaktion der vergangenen Woche wohl schüren. Zumal sie sich auf den berüchtigten und äußerst umstrittenen Strafrechtsparagrafen 129a stützte, der zu den Hochzeiten der RAF im Jahre 1976 eingeführt wurde und seither die Bildung einer »terroristischen Vereinigung« oder die Mitgliedschaft darin unter Strafe stellt. Die Begründung der Bundesanwälte für die Razzia: Linksextremisten hätten sich zusammengeschlossen und planten, »mit Brandanschlägen und anderen gewalttätigen Aktionen« den G8-Gipfel »erheblich zu stören oder zu verhindern«.

Wer solch schweres Geschütz wie den Antiterrorparagrafen auffährt und Hunderte von Polizisten auf die Suche schickt, muss gewichtige Argumente haben. Doch warum wurde niemand verhaftet, warum laufen die angeblich so brandgefährlichen Terroristen weiter unbehelligt herum? Mehr als kurios: Die Fahndung galt vornehmlich den anonymen Verfassern des Buchs Autonome in Bewegung, das seit vier Jahren frei zu kaufen ist, inzwischen in dritter Auflage. Was lässt das Schriftwerk und seine Urheber plötzlich für den Staat und die Gesellschaft derart bedrohlich werden?

Die Vermutung liegt nahe, dass die Bundesanwälte mit ihrer Großrazzia vor allem zwei Ziele verfolgten: Sie wollten Einblick in die Vorbereitungen der linken Protestszene erhalten und schoben den Terrorverdacht vor, um die Durchsuchung zu rechtfertigen, frei nach der Devise »Schauen wir mal, dann sehen wir schon«. Und sie wollten einschüchtern. In erster Linie natürlich den harten Kern der G8-Gegner, aber auch deren weiteres Umfeld und möglichst alle, die gegen das Treffen in Heiligendamm mobilisieren.

In diesen Tagen wird nicht nur an den Terror der RAF erinnert, sondern auch an die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg, der bei einer Demonstration gegen das Schah-Regime vor vierzig Jahren von einer Polizeikugel getroffen wurde. Sein Tod brutalisierte damals die Auseinandersetzungen, so wie es in jüngerer Vergangenheit der Tod des 23-jährigen Carlo Giuliani tat, der im Sommer 2001 in Genua gegen den G8-Gipfel auf die Straße ging.

Gewaltbereite Autonome können gefährlich sein. Wenn sie zum Angriff blasen, möchte niemand in der Haut der Polizisten stecken, die hier Sicherheit gewährleisten sollen. Doch sollten sich jene, die der Polizei den Auftrag erteilen, hart durchzugreifen, daran erinnern, dass diese Order mehr als einmal von den Gerichten kassiert wurde. Von Brokdorf über Wackersdorf bis Gorleben – viele Male haben Richter den Innenministern, Ordnungsämtern und Polizeien noch Jahre später vorgehalten: »Was ihr getan habt, verstieß gegen Recht und Gesetz!« Etwa, weil die Bannmeile um ein Atomkraftwerk zu weit gezogen wurde, weil Razzien zu dürftig begründet wurden oder der Einsatz von Wasserwerfern und Knüppeln zu weit ging.

In seinem bahnbrechenden Brokdorf-Urteil von 1985 hat das Bundesverfassungsgericht zweierlei gefordert: die Demonstrationsfreiheit streng zu achten und mit Verboten und Einschränkungen äußerst behutsam umzugehen. Spätestens seither lehrt jede ordentliche Polizeischule ihre Beamten die Kunst der Deeskalation. Für den Weltwirtschaftsgipfel in Heiligendamm scheint eine andere Regel zu gelten. Zaun und Razzia markieren: »Eskalation!«

Selbstverständlich muss für das Treffen der Acht, so umstritten es sein mag, die höchste Sicherheitsstufe gelten. Da Bush, Putin, Blair & Co. geladen sind, ist der deutsche Staat nicht völlig frei in seinen Sicherheitserwägungen. Denn er schuldet seinen Gästen Schutz. Gleichwohl muss er den Ansprüchen der Verfassung gerecht werden. Das wiederum schuldet er seinen Bürgern.

Dieter Grimm, der renommierte Staatsrechtslehrer und ehemalige Verfassungsrichter, der vergangene Woche 70 Jahre alt wurde, hat in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht reicht, Grundrechte in die Verfassung zu schreiben. Der Staat muss zudem ein Umfeld schaffen, das es den Menschen ermöglicht, ihre verbrieften Freiheiten auch wahrzunehmen. Es beunruhigt daher, dass die Sicherheitskräfte im Vorfeld von Heiligendamm ein allgemeines Klima der Einschüchterung schaffen und einen weiträumigen Zaun ziehen, der an das Ohr der Weltführer allenfalls Vogelgezwitscher, aber keinen Protestruf dringen lässt. So kann man den nächsten G8-Gipfel gleich auf den Mond verbannen.

© DIE ZEIT, 17.05.2007 Nr. 21