»Ene, mene, muh, der Terrorist bist du!«

Zeit 17. Mai 2007

Von Alexander Bühler
Von den Polizei-Razzien gegen militante Linke fühlen sich alle Globalisierungsgegner getroffen. Die Proteste gegen den G8-Gipfel haben jetzt neuen Schub bekommen.

Es ist ein ruhiger Mittwochmorgen in Hamburg, als die Rote Flora, das Autonomenzentrum der Stadt, durchsucht wird. In den Cafés gegenüber dem altehrwürdigen, aber etwas heruntergekommenen einstigen Varietétheater sitzen Passanten beim Milchkaffee. Sie schauen zu, wie Polizisten zahlreiche Kisten und Computer aus dem Gebäude schleppen. Es kümmert sie nicht sonderlich. Nur ein älterer Mann stampft mit dem Fuß auf, gibt sich selbst den Takt zu einem laut gebrüllten »Eins, zwei, drei, …« vor. Niemand schließt sich seinem Protestgesang an.

An 40 Orten in sechs Bundesländern finden zeitgleich Durchsuchungen statt. Knapp 900 Beamte sind unter Federführung der Bundesanwaltschaft im Einsatz. Die Behörde darf nur bei schwerwiegenden Strafsachen aktiv werden, die die innere oder äußere Sicherheit der Republik in besonderem Maße berühren. Wie zum Beweis dieser Einschätzung sind am Abend im Fernsehen Bilder von Demonstrationen gegen die Durchsuchungen zu sehen: Nach friedlichem Beginn kippt die aufgeheizte Stimmung. Flaschen und Feuerwerkskörper werden auf Polizisten geworfen, die daraufhin mit Wasserwerfern die Straße räumen.

Worum ging es bei den Durchsuchungen eigentlich? Die Bundesanwaltschaft sagt, sie ermittle gegen 21 Personen aus militanten Gruppen, die verdächtigt werden, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben. Ihr Ziel: Den G8-Gipfel »erheblich zu stören oder zu verhindern«. Die linke Szene dagegen wertet die Polizeiaktion als Einschüchterungsversuch des Staates zur »Kriminalisierung und Spaltung des G8-Widerstands«.

Die Berliner Beschuldigten machten sich hinterher in einer Presseerklärung über das »unkoordinierte und planlose Vorgehen« der Ermittler lustig. Bei zwei der vermeintlichen Terrorverdächtigen hätten gar keine Durchsuchungen stattgefunden, manche seien akribisch kontrolliert worden, andere nur oberflächlich.

In Hamburg bekam unter anderem der 68-jährige Fritz S. am vergangenen Mittwochmorgen Besuch von der Polizei. Der Physiker, seit Jahren in der Antiatombewegung aktiv, muss Speichelproben und Fingerabdrücke abgeben, seine Wohnung wird stundenlang durchsucht – »obwohl ein konkreter Tatverdacht fehlt«, wie sein Anwalt Andreas Beuth erklärt. Tatsächlich ist nur schwer vorstellbar, dass ein älterer Mann bei den Straftaten mitgewirkt hat, denen die Bundesanwaltschaft nachspürt. Denn es geht um Brandanschläge in Berlin und Hamburg, die von zwei Gruppen verübt wurden. Die eine, die sich schlicht »militante gruppe« nennt, trat erstmals im Juni 2001 auf. In Briefen unter anderem an den Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, Otto Graf Lambsdorff, erklärte sie, dass die NS-Opfer mit Brosamen abgespeist worden seien – und legte zur Verdeutlichung ihrer Absichten Gewehrpatronen bei. Seitdem verübte die militante gruppe mehrere Brandanschläge, etwa auf Fahrzeuge der Polizei, der Telekom, der Staatsanwaltschaft und zuletzt auf das Gästehaus der Bundesregierung. Die zweite Gruppe operiert vor allem in Hamburg und zielt anders als die militante gruppe nicht auf Institutionen, sondern auf Personen, auf Repräsentanten des »Systems«. Zum Beispiel auf Thomas Mirow, den ehemaligen Hamburger Wirtschaftssenator und heutigen Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, auf Thomas Straubhaar, Leiter des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, aber auch auf einen Niederlassungsleiter einer Hamburger Jobagentur.

Die Bekennerschreiben der Gruppe enthalten altbekannte Worthülsen der Roten Armee Fraktion, auch tauchten auf einigen Vorbereitungstreffen militanter G8-Gegner RAF-Veteranen auf und sprachen Solidaritätsadressen. Aber anders als in den siebziger Jahren gibt es heute keine direkte Gewalt gegen Menschen. Niemals griffen in den vergangenen Jahren militante Linke direkt Personen an, immer nur flogen nachts Brandsätze auf ihre Autos oder Farbbeutel an die Wände ihrer Wohnhäuser. Und noch ein wichtiger Unterschied: Die Täter von heute sind völlig isoliert und zersplittert. Das schreiben selbst Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz in ihren Jahresberichten, und das Hamburger Landesamt zählt insgesamt 69 Organisationen für 6000 sogenannte gewaltbereite Linksextremisten.

Doch der G8-Gipfel und der breite Protest dagegen, so die Befürchtung der Sicherheitsbehörden, könnten die Szene einen. Schon vor Monaten haben sich zahlreiche Gruppen in einem losen Bündnis zusammengefunden, das sich Interventionistische Linke (IL) nennt. Mit Bedacht meidet es gemeinsame inhaltliche Aufrufe, hat sich aber auf einen Minimalkonsens verständigt: unter anderem auf eine »klare und offensive Abgrenzung« gegen rechtsextremistische Globalisierungsgegner sowie eine »gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Aktions- und Widerstandsformen«, was »verbindliche Absprachen« erlaubt. Gewalt wird von der IL nicht ausdrücklich bejaht, aber – so formulierte es kürzlich ein Aktivist – man verurteile auch niemanden, »der bei Polizeiaktionen mal zurückrangelt«.

Die Sicherheitsbehörden scheinen eine Wiederholung der Berliner Tagung des Internationalen Währungsfonds von 1988 zu erwarten. Damals kam es tagelang zu Ausschreitungen und gewaltsamen Demonstrationen. 40 Autos wurden zerstört, Dutzende Schaufensterscheiben gingen zu Bruch, 110 Brandanschläge wurden gezählt. In diesem Licht scheint die kurzzeitige Festnahme von Fritz S. nicht mehr ganz so abwegig. Denn nach Auskunft seines Anwalts lautet einer der Vorwürfe gegen ihn, in dem 2004 erschienenen Buch Autonome in Bewegung die Beteiligung an Brandanschlägen 1988 in Berlin eingestanden zu haben. In diesem Buch beschreiben fünf anonyme Autoren die Geschichte der Linksautonomen seit 1980. Und gerade die Ereignisse in Berlin werden da mit viel Freude am Detail – und an den »Erfolgen« – dargestellt. »Diesem Vorbild entsprechend«, so die Bundesanwaltschaft in dem Durchsuchungsbeschluss gegen S., bereiten Linksextremisten »seit geraumer Zeit eine ›militante Kampagne‹ gegen den G8-Gipfel 2007 vor«. Eine Art Mentorenrolle reicht offenbar für den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. In einem anderen Durchsuchungsbeschluss lautet die etwas bizarre Begründung, die geplanten Taten »können insbesondere die internationale Position der Bundesrepublik als verlässlicher Partner im Verbund der acht wichtigsten Wirtschaftsnationen erheblich schädigen«.

Mit der Beschlagnahme von Computern, Servern, Handys, Flugblättern und sonstigem Informationsmaterial versuchten die Sicherheitsbehörden, einen Einblick in die Szene zu bekommen. Der alternative Internet-Provider so36.net in Berlin berichtete, die durchsuchenden BKA-Beamten hätten »den vollen Zugriff« auf alle Server verlangt und versucht, sämtliche gespeicherten Daten mitzunehmen – und nicht nur die E-Mails der im Durchsuchungsbeschluss genannten Personen.

Dass der Großeinsatz von vergangener Woche wirklich sinnvoll war, bezweifelt selbst Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD): »Wir werden beim G8-Gipfel große Demonstrationen haben. Es wird natürlich auch Leute geben, die für Gewalttätigkeiten kommen. Das sind aber Bereiche, die man mit der Polizei abdecken kann«, so Körting. »Dagegen gibt es sehr viele, die die Globalisierungsfolgen höchst kritisch sehen – bis in die etablierten Parteien hinein. Wir sollten uns hüten, diese Menschen in einen Topf zu werfen mit ganz wenigen gewaltbereiten Grüppchen und damit den Protest als solches für illegitim zu erklären.«

In der Tat sorgte die Durchsuchungsaktion für eine Mobilisierung der gesamten linken Szene. Dass zu Spontandemonstrationen am Mittwochabend Tausende Menschen kamen, überraschte selbst viele Teilnehmer. Gemäßigte Globalisierungsgegner und sogar die Jusos solidarisierten sich mit den Betroffenen. Die allgemein verbreitete Stimmung bringt ein Plakat auf den Punkt, das am Morgen nach den Durchsuchungen an der Roten Flora in Hamburg hängt: »Ene, mene, Muh – der/die Terrorist/in bist Du!«

Gut möglich, dass die diesjährigen G8-Proteste letztlich den Ereignissen rund um die IWF-Tagung von 1988 ähneln werden – aber anders als die Bundesanwaltschaft vermutet. Damals schafften es die militanten Autonomen in Berlin nämlich, den Gipfel zu stören, und die übermäßig reagierende Polizei stand am Ende als brutal und repressiv in der Kritik. Noch wichtiger: Die Reaktion des Staates führte zu einer gemeinsamen Reaktion von gewalttätigen und friedlichen Demonstranten.

© DIE ZEIT, 17.05.2007 Nr. 21

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