BERLIN/FRANKFURT AN DER ODER/MADRID

German - Foreign - Policy.com 16. Mai 2007

(Eigener Bericht) - Der seit Tagen andauernde Ansturm afrikanischer Armutsflüchtlinge auf EU-Gebiet scheitert an der Hochrüstung paramilitärischer Greifkommandos. Sie unterstehen der EU-Behörde "Frontex". Zwar erreichten binnen einer Woche etwa 800 Migranten die Kanarischen Inseln, jedoch sind die Gesamtzahlen rückläufig. Von Anfang Januar bis zum gestrigen Dienstag zählte die EU 2.892 unerwünschte Einwanderer auf den Kanaren - 6.300 weniger als in den ersten fünf Monaten des vergangenen Jahres. Wie die EU-Fluchtabwehrbehörde "Frontex" nicht ohne Genugtuung vermeldet, ist es unter Mitwirkung deutscher Beamter gelungen, tausende Einreisewillige in ihren Booten an die afrikanische Armutsküste zurückzudrängen. Aufgrund einer deutschen Initiative sollen in Kürze sogenannte Soforteinsatzteams für den Zugriff auf Migranten bereitstehen. Die fast 500 Polizisten werden in mehr als 100 Schiffen und Flugzeugen über High-Tech-Geräte aus Militärproduktion verfügen und die Bootsflüchtlinge auch bei Nacht verfolgen können. Die EU-Angriffe auf hoher See sind ungesetzlich, weil sie in den freien Schiffahrtsverkehr eingreifen. Kürzlich haben sich Flüchtlinge zum ersten Mal zur Wehr gesetzt: Sie gingen mit Molotow-Cocktails gegen die europäischen Grenzbewacher vor.
Rund 800 Bootsflüchtlinge haben in den vergangenen Tagen die Kanarischen Inseln und damit EU-Territorium erreicht. Wie zur selben Zeit im vergangenen Jahr ist die Zunahme der unerwünschten Einwanderung über See das Ergebnis besserer Wetterverhältnisse. Die Einreiseversuche werden voraussichtlich noch mehrere Monate auf hohem Niveau anhalten. Die Migranten aus den asiatischen und afrikanischen Armutsstaaten nutzen nicht nur die Kanarischen Inseln, sondern in zunehmendem Maße auch die Balearen und durchqueren das Mittelmeer, um an die spanische Ostküste zu gelangen. Zudem werden nach wie vor Malta und die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa von Flüchtlingsschiffen angesteuert. Allein am vergangenen Wochenende landeten in Lampedusa rund 500 Personen.

Besondere Bedrohung

Dass trotz der anhaltenden Fluchtbewegungen die Zahl der unerwünschten EU-Einwanderer deutlich zurückgeht, ist Ergebnis konsequenter Anstrengungen des deutschen Innenministeriums. Berlin arbeitet seit Jahren an einer Abwehrstrategie, hat bereits 2004 die Internierung Einreisewilliger in Nordafrika vorgeschlagen [1] und bemüht sich seit dem vergangenen Sommer um den Aufbau spezieller "Frontex"-Eingreiftrupps [2]. Die EU-Innenminister und das Europaparlament haben die Verordnung über den Aufbau von "Soforteinsatzteams" inzwischen abgesegnet; rund 450 Beamte sollen im Falle einer "besonderen Bedrohung" (Bundesinnenministerium) [3] unmittelbar abrufbar sein - gemeint ist der bedrohliche Anstieg von Flüchtlingszahlen. Eine "Toolbox", die den "Soforteinsatzteams" zur Verfügung steht, ist im Aufbau und umfasst gegenwärtig mehr als 100 Schiffe, über 20 Flugzeuge und fast 30 Hubschrauber - Tendenz steigend. Mehrere Helikopter kommen aus Beständen der deutschen Bundespolizei.

Patrouillennetz

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble bereitet inzwischen eine zusätzliche Ausweitung der europäischen Fluchtabwehr vor. Demnach wird Ende Mai unter "Frontex"-Regie ein "Küstenpatrouillennetz" im Mittelmeer und im Atlantik die Arbeit aufnehmen. Überwachungsschiffe sollen die Fluchtrouten systematisch observieren und die Verfolgung noch schneller aufnehmen können - zusätzlich zu den jeweiligen nationalen Küstenwachen, deren Tätigkeit fortgeführt wird. Spanien etwa setzt bereits acht Schiffe, drei Flugzeuge und zwei Hubschrauber gegen die Bootsflüchtlinge ein.[4] Beabsichtigt ist daneben der Aufbau eines umfassenden Europäischen Überwachungssystems, "zunächst an den Seeaußengrenzen", heißt es im Bundesinnenministerium.[5] "(Z)u einem späteren Zeitpunkt" soll das Überwachungssystem auch die östliche und südöstliche Grenzperipherie der EU einbeziehen und dabei Aufnahmen von Spionagesatelliten nutzen.

Ausspioniert

Den Aufbau eines sämtliche Facetten moderner Technologie einbeziehenden Spionage- und Abwehrsystems ergänzt die systematische Ausforschung angelandeter Flüchtlinge. Exemplarisch wurde sie im Verlauf der "Frontex"-Operation "Hera III" erprobt, die am 12. Februar begann. Binnen zweier Monate mussten sich mehrere Hundert Asylbewerber der Befragung durch Experten unterziehen. Ziel war es, Fluchtrouten und Fluchttechniken zu identifizieren, um künftige Einwanderer bereits auf See abfangen zu können. Zudem bemühten sich die Experten, darunter auch Deutsche, die Staatszugehörigkeit der "Sans Papiers" herauszufinden, um sie sofort abschieben zu können.[6] Wie die Operationsstatistik von "Hera III" vermeldet, verfügten die EU-Verhörspezialisten bis Mitte April über 585 Versuchspersonen, von denen sie ein Drittel befragten. Im selben Zeitraum wurden1.167 Bootsflüchtlinge abgefangen und in die Armutsgebiete Afrikas zurückgedrängt.
Ukraine, Türkei...
Im Schatten ihrer Operationen an den EU-Südgrenzen weitet die "Frontex"-Behörde ihre Aktivitäten auch an den östlichen und südöstlichen Grenzen aus. In der vergangenen Woche ist ein vierzehntägiger Einsatz zu Ende gegangen, der Kontrollen an der deutsch-polnischen und an der polnisch-ukrainischen Grenze miteinander verband. Im Mittelpunkt stand die unerwünschte Einreise in Lastkraftwagen ("LKW-Behältnisschleusungen"), teilt der ehemalige Präsident des deutschen Auslandsgeheimdienstes und jetzige Staatssekretär im Bundesinnenministerium, August Hanning, mit.[7] Wie an den Südgrenzen bezieht "Frontex" auch an den Ostgrenzen Personal der Nachbarstaaten in die Operationen ein: Zwei Mitarbeiter des ukrainischen Grenzschutzes nahmen an dem Einsatz teil. "Frontex"-Operationen stehen ebenso im Südosten der EU bevor. In den Grenzgebieten zwischen Griechenland und der Türkei soll in Kürze ein weiterer Einsatz der Greiftrupps beginnen.

Piraterie

Kürzlich stießen die EU-Kommandos auf aktive Gegenwehr, als sie sich einem Flüchtlingsboot näherten. Der Vorfall ereignete sich in internationalen Gewässern vor der afrikanischen Westküste. Den Versuch der EU-Einheiten, die Barkasse abzudrängen, obwohl sie nach Seerecht nicht behindert werden durfte, nahmen die Flüchtlinge für einen Akt der Piraterie. Sie bewarfen die Greiftrupps mit Molotow-Cocktails. Nach gewalttätigen Zwischenfällen vor der griechischen Küste, bei denen es zur Ertränkung unerwünschter Einwanderer gekommen sein soll [8], offenbart der Einsatz von Brandsätzen eine zunehmende Entschlossenheit und Verzweiflung. Hunderttausende Afrikaner wollen nach Europa, um der Perspektivlosikgkeit des ausgebeuteten Kontinents zu entkommen, und sind bereit, das Äußerste zu wagen - auf Leben und Tod.