Rote Flora: Zum Strand nur mit Bolzenschneider

Frankfurter Rundschau 11. Mai 2007

VON B. HONNIGFORT (HAMBURG)

Das Schulterblatt in Hamburg heißt Schulterblatt, weil es hier um 1700 ein Gasthaus gab, das in seinem Wappen das Schulterblatt eines Wals führte. Damals wohnten dort die Walfänger Hamburgs. Das Schulterblatt ist eine Straße im Schanzenviertel, dem Teil Hamburgs, von dem das Rathaus behauptet, dort lebten gerne Menschen, die irgendwie schräg seien oder kreativ, die vor allem nicht viel Geld in der Tasche hätten. Ein Szeneviertel mit unzähligen Bars und Restaurants. Eine abends rappelvolle Kneipengängergegend.

Vor dem Schulterblatt 84, einem portugiesischen Tapas-Restaurant, steht der Kellner in der Tür, raucht und blickt nach gegenüber, auf das Schulterblatt 71, zur Roten Flora. “Heute Abend wird wohl nichts passieren”, sagt er. “Hoffen wir mal.”

“Kampagne der Staatsmacht”

Er wird Recht behalten. In der Nacht zu Freitag bleibt es ruhig, anders als am Tag zuvor, als 2000 Menschen gegen die Durchsuchung der Roten Flora protestierten und sich einige hundert anschließend eine stundenlange Schlägerei mit der Polizei lieferten. Ein Sprecher des Hauses über die Durchsuchung: “Wir sehen darin den Versuch der Staatsmacht, die Kampagne gegen die menschenverachtende Politik der G8 zu kriminalisieren und zu diffamieren.”

“So schlimm war es jetzt auch nicht”, sagt der Kellner über die Krawallnacht. “Ein bisschen Feuer, ein bisschen Wasser.” Er fächelt sich mit der Hand Luft vor die Nase. “Und ein bisschen Tränengas war auch.” Ein-, zweimal im Jahr sei das eben so auf dem Schulterblatt. Am 1. Mai, erzählt er, passiere eigentlich immer etwas: Mülleimer würden angezündet, manchmal auch Polizeiautos. Man ist einiges gewohnt.

Die Rote Flora ist eine ewige Bruchbude und Baustelle mit Park dahinter und Skaterbahn. Ihre Geschichte begann 1888 als Tivoli-Theater. Dann wurde daraus ein Konzerthaus und schließlich das Flora-Theater, ein Ort für Operetten und Revuen. Das Haus überstand den Zweiten Weltkrieg, wurde zum Kaufhaus “1000 Töpfe” und Ende 1987, als es für das Musical “Phantom der Oper” umgebaut werden sollte, wurde die linke Szene darauf aufmerksam. Ein Bündnis aus Anwohnern, Händlern und Leuten aus der Autonomen Szene protestierte dagegen. Ein Teil wurde 1988 abgerissen, dann begann die Zeit der Anschläge und Besetzungen. Das Musicalprojekt scheiterte.

1989 wurde die Rote Flora eröffnet und das Haus endgültig besetzt. Im Juli 1991 räumte ein großes Polizeiaufgebot den Park hinter der Roten Flora, weil die Stadt dort bauen wollte. 1995 stand der Kulturtreff in Flammen, brannte fast ab und wurde von den Besetzern in Eigenarbeit repariert. 2001 gab Hamburg auf und verkaufte das heruntergekommene Haus an einen Immobilienkaufmann, der es heute noch besitzt und Miete von den früheren Besetzern kassiert.

Der Hamburger Verfassungsschutz hat den “Freiraum autonomer Lebensverwirklichung” seit Jahren im Blick. Er zählt das Haus zu den “linksextremistischen Zentren in Hamburg”. Es sei immer wieder Ausgangspunkt gewalttätig verlaufender Aktionen gewesen und bis heute der “wichtigste Kristallisationspunkt der Autonomen in Hamburg und Umgebung”.

Am Donnerstagabend zieht Polizei auf, postiert sich an den Enden des Schulterblatts, aber es bleibt ruhig. Zwei angetrunkene Punker legen sich auf die Straße, kippen Bier in sich rein. Autos machen mühevoll einen Bogen um sie. Wer hupt, bekommt den Stinkefinger. Die leeren Bierflaschen sammelt ein alter Mann ein, der sich auf zwei Krücken über die Straße schleppt. An der Wand der Roten Flora prangt ein großes Bild. Es geht um G8 und Heiligendamm: Stacheldraht und ein Bolzenschneider davor. “Hinterm Zaun liegt der Strand”, heißt es.