Nicht fremd

german-foreign-policy 1. Mai 2007

DORTMUND/ERFURT/RÜSSELSHEIM
(Eigener Bericht) - Mehrere tausend Neonazis werden am heutigen Dienstag bei Aufmärschen in sechs deutschen Städten erwartet. Die Demonstrationen am 1. Mai, einem landesweiten Feiertag, vereinigen unterschiedliche Flügel des deutschen Rechtsextremismus und werben unter Rückgriff auf NS-Parolen für einen "nationalen Sozialismus". Die außenpolitische Komponente der NS-Aufmärsche richtet sich insbesondere gegen die USA. Den Vereinigten Staaten gilt eine seit Wochen andauernde neonazistische Kampagne, die anlässlich des kommenden Gipfels der Industriestaaten (G8) kulminieren soll. Das G8-Treffen wird Anfang Juni in Heiligendamm (Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) stattfinden. Die neonazistischen Organisationen radikalisieren mehrere Traditionslinien der deutschen Außenpolitik. Propagiert werden Bündnisse mit Russland und Iran, die Berlin mehrfach zu Partnern erklärte, wenn die "Westbindung" einen weiteren Machtzuwachs Deutschlands nicht mehr gewährleisten konnte. Die rechtsextremen Strategiepläne beziehen inzwischen auch Lateinamerika ein und nutzen die dortige Zurückweisung der US-Hegemonie zu eigenen Aufrufen gegen Washington, den "Hauptfeind" des deutschen NS-Lagers.
Neonazi-Aufmärsche am heutigen Dienstag sind für sechs Städte in verschiedenen Regionen Deutschlands angekündigt (Dortmund, Erfurt, Nürnberg, Neubrandenburg, Vechta, Rüsselsheim/Raunheim). Weitere Demonstrationen werden an noch unbekannten Orten erwartet, in denen Neonazis konspirative Verabredungen treffen. Auffällig ist die Konzentration auf Industriegegenden, die vormals Hochburgen linksoppositioneller Aktivitäten waren. Hier beansprucht das Neonazi-Lager, zunehmende Sympathien unzufriedener Arbeiter zu gewinnen, denen eine nationale Perspektive gegen "Raubtierkapitalismus" und "Globalisierung" gewiesen wird. Als Zentrum der verhassten Wirtschaftspolitik, die erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung verarmen lässt, gelten die USA.
Entschiedener Feind
Die Vereinigten Staaten müssten "als entschiedener Feind angesehen werden", erklärt der außenpolitische Sprecher der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Jürgen Rieger.[1] Antiamerikanismus sei "europäische Bürgerpflicht", behauptet der designierte Leiter des "Amtes Bildung" beim NPD-Parteivorstand, Andreas Molau. In die Front der deutschen Gegner werden auch konkurrierende westeuropäische Staaten eingereiht, vor allem Großbritannien und Frankreich. "Viele Engländer" blickten "mit Abneigung auf die stärkste Macht in Westeuropa" (d.i. Deutschland); auch könne "eine Reihe von Franzosen (...) nicht damit leben (...), daß das deutsche Volk größer, innovativer und wirtschaftlich stärker ist als ihr eigenes". Berlin werde geneidet, dass es "über ein größeres Gewicht in Europa verfügt", bemüht Rieger deutsche Suprematiewünsche, denen die angebliche Missgunst britischer und französischer Rivalen gegenübergestellt wird.
Allianzen
Während die Außenpolitik der Berliner Regierung am westlichen Bündnis festhält und ihre globalen Einflussoffensiven über EU und NATO vorzubringen sucht, arbeiten die NPD und ihr nahestehende Kreise an alternativen Strategien. Dabei setzen sie Traditionslinien fort, die frühere deutsche Regierungen nutzten, wenn die Kooperation mit den westlichen Mächten nicht mehr ausreichend Erfolg zu versprechen schien. Auch in Berliner Ministerien wird eine Wendung nach Osten nicht gänzlich ausgeschlossen, jedoch von der transatlantischen Duldung deutschen Machtzuwachses abhängig gemacht. Ähnliche Positionen vertreten deutsche Außenpolitiker im Falle eines Misserfolges der Berliner Europa-Politik. Sollte die EU-Verfassung scheitern, könnten "Allianzen" entstehen, wie sie "schon 1914 in den Super-Gau des 20. Jahrhunderts führte(n)", drohte ein SPD-Europaabgeordneter kurz nach dem französisch-niederländischen Nein beim Verfassungsreferendum.[2] Erst vor wenigen Wochen prophezeite die deutsche Kanzlerin, es werde zu erneuten militärischen Auseinandersetzungen in Europa kommen, sollte sich Berlin nicht durchsetzen können: "Die Idee der europäischen Einigung ist auch heute noch eine Frage von Krieg und Frieden."[3]
Ehrenmedaille
Die Strategien, die deutsche Neonazis entwickeln, setzen das Scheitern der westlich orientierten deutschen Hegemonialpolitik bereits voraus. Als vorrangiger Bündnispartner unter den großen Mächten gilt ihnen nicht Amerika, sondern Russland - in Erinnerung an das antifranzösische Bündnis des Jahres 1812 ("Konvention von Tauroggen"), die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau im Kaiserreich sowie die illegale Militärkooperation der 1920er Jahre zur Aushebelung des Versailler Friedensvertrags. "Bei einer Betrachtung des deutsch-russischen Verhältnisses läßt sich feststellen, daß es beiden Völkern immer dann gut gegangen ist, wenn sie durch freundschaftliche Beziehungen verbunden waren", lockt der NPD-Außenpolitiker Rieger [4] - ohne die Kosten zu erwähnen, die dabei Dritten zugemutet wurden: Zerstückelung Polens durch Berlin, Moskau und Wien im 18. Jahrhundert. Erst kürzlich ist ein ehemaliger Berater des früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow mit der Ehrenmedaille einer führenden Organisation des deutschen Rechtsextremismus ausgezeichnet worden - wegen seines Einsatzes "für ein besseres Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland".[5]
Gemeinsam im Untergrund
Einen "Wunschpartner" will die NPD im Iran erkennen. Über Teheran könne man die Kontrolle am Persischen Golf gewinnen und zudem die eigene Ressourcenzufuhr sichern, heißt es in der NPD-Zeitung "Deutsche Stimme". Auch hier knüpfen die neonazistischen Strategen an historische Vorläufer an. Bereits in den 1930er Jahren näherten sich Deutschland und Persien; das Schah-Regime dekretierte 1935 die Umbenennung des Landes in "Iran" ("Land der Arier").[6] Nach dem Einmarsch britischer und sowjetischer Truppen im Jahr 1941 gingen deutsche "Agenten und Spezialeinheiten (...) mit iranischen Widerständlern in den Untergrund", erinnert der NPD-Auißenpolitiker Rieger: "Unterstützung erfuhr der gemeinsame Kampf bis Kriegsende durch Berlin in Gestalt von Verstärkungen und Fallschirmabwurf von Kriegsgerät."[7] Rieger empfiehlt, die deutsch-iranische Kooperation neu zu beleben, und stößt damit in Teheran auf offene Ohren. Zu der sogenannten Holocaust-Konferenz, die kürzlich in der iranischen Hauptstadt abgehalten wurde, reisten mehrere deutsche Neonazis an.
Gemeinsam gegen Washington
Die US-feindlichen Strategiepläne deutscher Neonazis, die im Vorfeld der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm erhebliche Aufmerksamkeit erfahren, integrieren neuerdings auch Lateinamerika. Die dortigen Bemühungen, den US-Einfluss zurückzudrängen, müssten unterstützt werden, heißt es im NPD-Blatt "Deutsche Stimme". Auch hier radikalisiert die extreme Rechte gegen Washington gerichtete Tendenzen der Berliner Außenpolitik, die derzeit partielle Bündnisse mit den Vereinigten Staaten nicht ausschließt - beim Kampf gegen Versuche in Kuba, Venezuela und Bolivien, die Hegemonie der westlichen Industriestaaten zurückzudrängen. Diese deutsch-US-amerikanischen Aktivitäten müssten zugunsten des gemeinsamen Kampfes gegen die Vereinigten Staaten eingestellt werden, verlangt die "Deutsche Stimme": Die "Anti-US-Fronde" solle ohne Beeinträchtigung durch die linken Positionen der lateinamerikanischen US-Opponenten "eine wie auch immer geartete Verstärkung erfahren".[8]
Optionen
Die seit Jahren ausgreifenden NS-Aktivitäten, die sich am heutigen Mai-Feiertag der verlorenen Arbeiterklientel des linken Spektrums annehmen, lassen weder parlamentarische Mehrheiten noch eine offene Regierungsbeteiligung befürchten. Ohne selbst ministrabel zu sein, hält das NS-Lager Optionen bereit, die der deutschen Außenpolitik nicht fremd sind und an die zu erinnern der NPD mit zunehmender Deutlichkeit gelingt.