Kampagne "Discounter, globale Landwirtschaft und Widerstand"
aus Dissent! Network Wiki, der freien Wissensdatenbank
Hallo,
wir möchten Euch zu einem Planungswochenende einladen, bei dem die Umrisse einer Kampagne unter dem provisorischen Arbeitstitel „Discounter, globale Landwirtschaft & Widerstand“ entwickelt werden sollen. In der angedachten Kampagene soll einerseits gezeigt werden, auf welche Weise die zunehmende Konzentration im weltweiten Lebensmittelhandel nicht nur einen entscheidenden Anteil an der Zerschlagung (klein-)bäuerlicher Strukturen trägt, sondern auch der Ausbreitung industrialisierter Intensivlandwirtschaft massiv Vorschub leistet – im Süden genauso wie im Norden des Globus. Andererseits soll dies mit praktischen Brückenschlägen zu Orten des Widerstandes einhergehen - wie etwa in Südspanien, wo sich die LandarbeiterInnengewerkschaft SOC für die Rechte migrantischer LandarbeiterInnen stark macht (unter anderem mit Unterstützung des „Europäischen Bürgerforums“).
Das Planungswochenende findet vom 02. - 04. November in Niederkaufungen bei Kassel statt (ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass eine Verwechslung mit dem Treffen zur Vorbereitung eines Klima-Camps im kommenden Jahr vermieden werden sollte; dieses ist zwar für dasselbe Wochenende ebenfalls in Kassel angesetzt – und hat obendrein viel mit globaler Landwirtschaft zu tun, ist aber eine andere Veranstaltung!). Da es sich um unser erstes (formelles) Treffen handelt, rechnen wir mit max. 20 TeilnehmerInnen, dennoch möchten wir um eine kurze Anmeldenotiz an diese Maildresse bitten!
Für alle, die mehr wissen wollen, haben wir jetzt noch diverse Hintergrundinfos zusammengestellt:
Entstanden ist die Idee zum (Kampagnen-)Projekt „Discounter, globale Landwirtschaft & Widerstand“ im „Aktionsnetzwerk globale Landwirtschaft“. Ðas Aktionsnetzwerk gehört zu jenen Akteuren, welche sich erst im Zuge der Mobilisierung gegen den diesjährigen G8-Gipfel in Heiligendamm formiert haben. Aus ihm heraus wurden sowohl mehrere der landwirtschaftsbezogenen Aktionen im Vorfeld des G8-Gipfels als auch der Aktionstag „Globale Landwirtschaft“ während der G8-Gipfel-Protestwoche am 3. Juni in Rostock & Umgebung organisiert. „Discounter, globale Landwirtschaft & Widerstand“ ist im übrigen nur eines von mehreren Projekten bzw. Kampagnen, die beim letzten Treffen des Aktionsnetzwerks Anfang September ins Auge gefasst wurden (verwiesen sei diesbezüglich auf das öffentliche Protokoll des Aktionsnetzwerkstreffens, welches auf www.g8-landwirtschaft.net abgerufen werden kann).
Die Beschäftigung mit Discountern ist keineswegs zufällig – vielmehr gibt es diverse Verbindungslinien zu ähnlich gelagerten Projekten:
1. Anlässlich des G8-Gipfels ist das Thema zweimal auf die Tagesordnung gerückt: a) Die 10-tägige (Orangen-)Infotour zu G8 & Landwirtschaft hat zwar etliche Aspekte aus dem weiten Feld globaler Landwirtschaft adressiert (insbesondere im Rahmen der abendlichen Veranstaltungen), im Zentrum der Aktionen am Nachmittag stand jedoch der industrialisierte Gemüseanbau in den Treibhäusern rund um Almeria/Südspanien, wo ein Großteil des Wintergemüses für West- und Nordeuropa produziert wird: Bilder und einen ausführlichen Bericht zur Infotour gibt es auf der Website von Umbruch Bildarchiv: http://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/030307infotour.html b) Am 4. Juni hat in Rostock zudem eine gemeinsam von antirassistischen und LandwirtschaftsaktivistInnen organisierte Aktion vor einem Lidl-Supermarkt mit etwa 300 TeilnehmerInnen stattgefunden. Bei der Aktion hat nicht zuletzt ein aus dem Senegal stammender Aktivist der andalusischen LandarbeiterInnengewerkschaft SOC ausführlich über die negativen Auswirkungen von Discountern a là Lidl auf die Arbeitsbedingungen in der südspanischen Landwirtschaft informiert.
2. Bekannt geworden sind die südspanischen Treibhäuser vor allem durch die Infokampagne des „Europäischen Bürgerforums“ (EBF), welche zwischenzeitlich einen richtiggehenden Boom diesbezüglicher Reportagen, Fotodokumentationen, Forschungsprojekte etc. ausgelöst hat. Ausgangspunkt der EBF-Aktivitäten waren die rassistischen Pogrome gegen LandarbeiterInnen aus Nordafrika, welche 2000 in El Ejido/Südspanien mehrere Tage gewütet haben. Das EBF hat seine Kampagne außerdem von Anfang an mit praktischer Solidaritätsarbeit verknüpft. Erst hierdurch ist es der SOC finanziell möglich geworden, zwei soziale (Gewerkschafts-) Zentren mitten in den industrialisierten Gemüseanbaugebieten zu gründen und so den Kampf für die sozialen Rechte der migrantischen LandarbeiterInnen infrastrukturell auf breitere Füße zu stellen. Am „Aktionsnetzwerk globale Landwirtschaft“ sind mehrere AktivistInnen des Europäischen Bürgerforums beteiligt; zwei von ihnen werden Anfang November ebenfalls nach Niederkaufungen kommen, und auch aus Frankreich und der Schweiz haben sich bereits mehrere EBF-AktivistInnen angekündigt.
3. Schließlich ist noch eine Vielzahl weiterer Projekte zu berücksichtigen, die sich direkt oder indirekt mit Discountern und Landwirtschaft beschäftigen bzw. beschäftigt haben:
a) Unter dem Motto „Prekarisierung, Migration und Widerstand – die Kosten rebellieren“ haben 2004 in Dortmund und 2006 in Hamburg so genannte 'kosten-rebellieren-Konferenzen' stattgefunden (vgl. www.labournet.de). Beide Male ist es auch um die Arbeitsbedingungen (insbesondere) von MigrantInnen in der europäischen Intensivlandwirtschaft gegangen. In Dortmund wurde die Thematik etwa im Rahmen einer so genannten Metro-Revue aufbereitet, d.h. am Beispiel eines (exemplarisch herausgepickten) Konzerns wurde gezeigt, wie sich Preisdiktate, 'Qualitäts'vorgaben, Mindesabnahmemengen etc. negativ auf die Arbeitsbedingungen migrantischer LandarbeiterInnen auswirken.
b) Ein weiterer Ort, an dem Arbeit und Migration seit einiger Zeit eine prominente Rolle spielen, ist der Euromayday-Prozess (vgl. http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/euromayday-hh/). Auf der ersten Euromayday-Parade in Hamburg 2005 haben z.B. Mitglieder des Europäischen Bürgerforums (im Rahmen des antirassistischen NoLager-Blocks) die „tödliche“ Produktion von Tomaten in Südspanien theatralisch an den Pranger gestellt.
c) Stichwort „Antirassismus“: Selbstorganisierte Flüchtlingsgruppen wie die „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen“ oder die „Brandenburger Flüchtlingsinitiative“ gehen schon seit langem unter dem Motto „Wir sind hier weil ihr unsere Länder zerstört“ auf die Straße. Auch wenn es der (naheliegende) Fokus auf die rassistischen Entrechtungen in Europa nur in Ausnahmefällen zulässt, dass es zu einer wirklich substantiellen Beschäftigung mit der Situation in den Herkunftsländern kommt, wächst allenthalben der Wunsch, dass sich dies schnellstmöglich ändern möge – nicht nur aus bündnispolitischen Erwägungen (in Richtung globalisierungskritischer Bewegung), sondern auch aus der Einschätzung heraus, dass der erfolgreiche Kampf gegen Abschiebungen bzw. für Bewegungsfreiheit ohne gut recherchierte Informationen aus den jeweiligen Herkunftsländern keinen Erfolg haben wird. In diesem Sinne hat etwa auf dem G8-Alternativgipfel in Rostock eine Großveranstaltung zu den strukturellen Ursachen von Flucht und Migration stattgefunden (vgl. http://nolager.de/blog/taxonomy/term/122). In diesem Rahmen ist auch ein Vertreter von via campesina aus dem Kongo aufgetreten und hat über die Zerstörung kleinbäuerlicher Landwirtschaft in Afrika berichtet.
d) Am explizitesten und öffentlichkeitswirksamsten dürfte die Rolle von Discountern in den Lidl-Kampagnen von ver.di und attac thematisiert worden sein – durchaus auch im Hinblick auf die sozialen und ökologischen Auswirkungen innerhalb der landwirtschaftlichen Produktion. Während die attac-Kampagne (vgl. http://www.attac.de/lidl-kampagne/) zu Lidl bereits seit längerem eingestellt ist bzw. nur noch von einzelnen Ortsgruppen weiterverfolgt wird, wird sich ver.di erst im Zuge seines derzeit über die Bühne gehenden Bundeskongresses endgültig entscheiden, ob und wie es mit der Lidl-Kampagne weitergehen soll (vgl. http://lidl.verdi.de/)
e) Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die kritische Beschäftigung mit Discountern und Lebensmittelkonzernen alles andere als neu ist – im Gegenteil: Im Rahmen internationalistischer Politik hat dieses Themenfeld in den 1980er Jahren eine herausragend Rolle gespielt. Mehr noch: Fairtrade-Produkte etc. (die mittlerweile aus mehr oder weniger schlechten Gründen selbst in Discountern anzutreffen sind) haben sich genau aus diesem Kontext entwickelt, auch wenn das anfangs noch mit Grundsatzkritik an kapitalistischen Verhältnissen einhergegangen ist. Neu ist hingegen – und das ist auch der Grund für unseren Kampagnenvorschlag, dass die wirtschaftliche Macht von Supermarktketten im Verhältnis zu den vorgelagerten Gliedern der Wertschöpfungskette in den letzten zwei Jahrzehnten massiv zugenommen hat.
Spätestens vor dem Hintergrund dieser Aufzählung dürfte deutlich werden, dass es bei unserem Treffen im November viel zu diskutieren gibt. Unter anderem sollten folgende Fragen berücksichtigt werden:
a) Was immer wir tun (vor allem dann, wenn es unter expliziter Bezugnahme auf die Situation in Südspanien erfolgt), wir sollten stets berücksichtigen, dass sich hierdurch die (Kampf-)Bedingungen der SOC nicht verschlechtern dürfen! Dies setzt vor allem eine regelmäßige Rückkoppelung mit AktivistInnen der SOC voraus.
b) Wir müssen uns entscheiden, ob wir nur die landwirtschaftliche Situation in Europa oder auch in Ländern des Südens berücksichtigen möchten – insbesondere in Afrika, woher ja viele Flüchtlinge und MigrantInnen stammen, die ihrerseits in der europäischen Landwirtschaft tätig sind.
c) In der Vergangenheit sind (wie schon gesagt) etliche Erfahrungen mit Anti-Discounter-Kampagenen gesammelt worden – unter anderem in der Schweiz. Diese z.T. hochgradig ambivalenten Erfahrungen müssen auf jeden Fall gebührlich reflektiert werden.
d) Wenn wir von Discountern sprechen, müssen wir uns vor allem ins Verhältnis zu den beiden Lidl-Kampagenen von ver.di und attac setzen. Wir müssen uns überlegen, ob wir uns in deren (extrem populäres) Fahrwasser begeben möchten oder ob wir dies gerade nicht tun sollten, einfach deshalb, weil wir Gefahr laufen würden, nicht aus deren Schatten heraustreten und somit auch nicht kenntlich machen zu können, an welchen Punkten wir ausdrücklich andere Positionen bzw. Perspektiven vertreten. Und sollten wir letzteres beschließen, wozu es bislang nicht die geringste Vorentscheidung gibt (!), müssten wir trotzdem gucken, wie wir das Verhältnis in Richtung der beiden Anti-Lidl-Kampagenen gestalten möchten – denn thematische Überschneidungen gibt es ja zuhauf.
e) Stichwort 'Überschneidung': Wie immer wir uns hinsichtlich der Lidl-Kampagne von ver.di positionieren werden, wir sollten stets im Auge behalten, dass nicht nur die sozialen Rechte von ProduzentInnen, sondern auch die von Discounter-Angestellten mit Füßen getreten werden. Diesbezüglich ist also jedes Konkurrenzverhältnis zu vermeiden. Oder positiv: Die Auseinandersetzung mit Discountern und globaler Landwirtschaft führt unweigerlich zur Forderung nach globalen sozialen Rechte - und zwar für alle!
f) Zu bestimmen sind überdies die Schnittstellen zu jenen Bewegungen bzw. Kampagnen, die ebenfalls mit Discountern zu tun haben: Exemplarisch sei die derzeit verstärkt diskutierte Klimafrage erwähnt (Discounter forcieren die industrialisierte Landwirtschaft und diese wiederum hat äußerst negative Konsequenzen fürs Klima) oder die clean-clothes-Kampagne, die aufzeigt, inwieweit die Preisdikate (unter anderem) von Discountern die Arbeits- und Lohnbedingungen von NäherInnen massiv verschlechtern.
g) Schließlich sollte all dies (und vieles weiteres) nicht nur berücksichtigt, sondern auch in ein handhabbares Kampagnen-Konzept übersetzt werden...
Zu den meisten der hier angesprochenen Punkte werden einzelne aus der Einladungsgruppe kurze Einführungen vorbereiten – aber natürlich sind auch weitere (thematische) Inputs oder Erfahrungsberichte sehr willkommen.
Mit herzlichen Grüßen,
die Einladungsgruppe