Debriefing - Überblick und Kritik

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  • hier kommt nun endlich der Text über Debriefing. Das meiste ist eine Zusammenfassung aus einem Buch (steht auch im Text dabei). Darunter noch ein paar Kritikpunkte, die mir zu Ohren gekommen sind.


Psychologisches Debriefing

Die Begriffe Defusing und Debriefing stammen aus der Militärsprache. Defusing bedeutet „Entschärfen“, Debriefing ist eine „Einsatz-Nachbesprechung“, (das Briefing ist die Einsatzbesprechung). Beide Techniken wurden zuerst vom Militär eingeführt, um Soldaten schnell wieder frontfähig zu machen. Inzwischen werden sie weltweit für Rettungskräfte, Feuerwehrleute, Polizei und Krisenhelfer_innen eingesetzt, aber mehr und mehr auch als Angebot für Betroffene von Zugunglücken, Geiselnahmen, Entführungen, etc.

Das Defusing bezeichnet die „Erste Hilfe vor Ort“, die in Nordeuropa bei Zugunglücken etc. oft von speziell dafür ausgebildeten PfarrerInnen, den sog. „NotfallseelsorgerInnen“, angeboten wird. Zu den wichtigsten Aufgaben gehört hier:

  • einen sicheren Rahmen schaffen
  • dringende Bedürfnisse klären
  • wenn nötig medizinische Versorgung veranlassen
  • Betroffene im hier und jetzt orientieren; informieren
  • Getränke, warme Kleidung, Decken anbieten
  • soziale Unterstützung ("da sein")
  • Gespräche anbieten wenn gewünscht (nennt sich auf englisch walk & talk)
  • Hilfe bei der Suche nach Vermissten
  • Informationen einholen
  • praktische Hilfe organisieren (z.B. Geld / Kinderbetreuung / Heimfahrtmöglichkeit, etc.)
  • kurze Broschüren mit Informationen über die Auswirkungen von Gewalt mitgeben + Adressen, an die die Leute sich später wenden können.

Wichtig hierbei ist es, zuzuhören ohne zu werten oder zu kritisieren und Leute nicht zu bedrängen oder mit Infos zu überschütten. (Diese Aufzählung ist bestimmt noch nicht vollständig).

Das Debriefing ist sehr viel formalisierter. Es findet in zwei Sitzungen statt. Die erste Sitzung wird immer etwa 3 Tage nach dem kritischen Ereignis anberaumt (nie früher) und ist in 7 Schritte aufgeteilt. Die zweite Sitzung findet dann 6-8 Wochen nach der ersten Sitzung statt. Die Idee ist, das Ereignis (fast immer in einer Gruppe) noch mal durchzusprechen, aber dabei die Fakten, die Gefühle und die Gedanken getrennt voneinander zu erzählen. Dadurch soll das Ereignis „erzählbar“ werden und es soll psychologischen Folgen vorgebeugt werden.


Das 7 Schritte-Modell (erste Debriefing-Sitzung)

Das Modell des CISD (Critical Incident Stress Debriefing) besteht aus 7 Schritten, in welchen die drei oben beschriebenen Anteile Fakten, Gefühle und Psychopädagogik enthalten sind. Die formalisierte Struktur erlaubt es den Teilnehmern, ein für sie traumatisches Erlebnis geordnet und kontrolliert zu erzählen, ohne dabei von ihren Gefühlen überwältigt zu werden und es so in ihre Erfahrung zu integrieren. Es muss darauf geachtet werden, dass keine neue Exposition stattfindet – das kann zu einer Re-Traumatisierung führen. Der Grossteil des Debriefings wird darauf verwendet, Stress Management Techniken vorzustellen und einzuüben. Zu jedem Debriefing gehört zusätzlich die Mobilisierung des sozialen Netzes, sei es in Form von Information der Familien- und Freundeskreise, sei es durch die Ermunterung zu gegenseitiger Unterstützung in den Gruppendebriefings. (Habe ich aus dem Buch von Perren-Klingler abgeschieben).


Die 7 Schritte: (Meist in Gruppen von 8-12 Menschen mit 2 Debriefenden)

  • 1) Einführungsphase
  • 2) Phase der Fakten
  • 3) Phase der Gedanken
  • 4) Phase der Emotionen
  • 5) Information über mögliche Reaktionen und Erlernen von Stress Management Techniken
  • 6) Ritual
  • 7) Zusammenfassung durch die Debriefenden und Abschluss


Schritt 1: In der „Einführungsphase“ stellen sich die Mitglieder des Debriefingteams vor und informieren über Sinn, Zweck und Ablauf des Prozesses. Eine kurze Zusammenfassung über mögliche Reaktionen auf traumatische Erfahrungen und ihre Normalität und Natürlichkeit wird gegeben, damit die Teilnehmenden den Prozess verstehen und darin einwilligen können.


Schritt 2: In der Phase der Tatsachen wird mit den 5 W Fragen (Wer? Wann? Wo? Was? Wie?) und „was ist passiert?“ die Geschichte kognitiv erarbeitet. Hierbei werden vor der Erstellung der Geschichte, „zwei gedankliche Sicherheitssäulen“ aufgebaut: Durch eine genaue (sinnesspezifische) Erarbeitung des letzten guten Moments vor der traumatischen Erfahrung und des ersten Moments wiedererlangter Sicherheit (als klar war: es ist vorbei!) wird die traumatische Erfahrung in einen größeren Lebenskontext gestellt. Die zwei „Sicherheitssäulen“ zeigen die Begrenzung der Erfahrung in Zeit und Raum, und man kann im Verlauf des Debriefings immer wieder darauf zurückgreifen und betonen, dass die traumatische Erfahrung in der Vergangenheit liegt. Die zweite Säule ermöglicht den Debriefenden, den Schluss der Geschichte zu kennen, und so auch selbst (Gegenübertragung!) auf das real Schlimmste (z.B. ein Todesfall, Foltererfahrung etc) vorbereitet zu sein. Die zwei Sicherheitssäulen sollen sowohl Debriefenden wie Teilnehmenden den nötigen Rahmen geben, um den Ablauf des kritischen Ereignisses nochmals gedanklich zu ordnen. Außerdem wird soll bei der Konstruktion der Geschichte durch aktives, ruhiges und genaues Nachfragen das Aufkommen von traumatisch bedingten Gefühlen verhindert werden. Diese Technik erlaubt es, eine genaue Geschichte, einen narrativen roten Faden, zu erstellen, mit allen wahrgenommenen (auch schrecklichen) Anteilen. Durch dieses Nachfragen werden die Emotionen (vorläufig) zurückgedrängt, und zwar sowohl bei den Erzählenden, wie auch beim Fragenden. Die Unschärfe der Erinnerung, die durch Vermeidungsstrategien gefördert wird, wird aufgehoben. Wie schrecklich die Erfahrung auch ist, es kann darüber gesprochen und die Tatsachen beschrieben werden. Die Bilder müssen nicht mehr permanent zurückgedrängt werden.Die am Ende gemachte Zusammenfassung des Geschilderten durch eine_n der Debriefenden ermöglicht auch eine Anerkennung dessen, was passiert ist.


Schritt 3: In dieser Phase wird nach den Gedanken, die durch den Kopf gingen, oder immer noch gehen, gefragt, in der Annahme, dass für viele Menschen der Zugang zu den eigentlichen Gefühlen so einfacher wird. Es wird aber auch speziell nach dem Grund („warum?“) dieser Gedanken gefragt, weil dadurch Wertvorstellungen und Interpretationsweisen klarer werden. Häufig wird hier ausgedrückt, warum ein bestimmter Anteil des Ereignisses als besonders schrecklich erlebt wurde, d.h. es werden Hintergründe von bestimmten Einordnungen und Bewertungen und persönliche Interpretationsweisen ausgesprochen. Dies kann erste Ideen für ein Ritual (siehe Schritt 6) geben. Zudem hindert es die Debriefenden, Interpretation aus eigener Sicht zu geben, und ermöglicht ihnen diejenige der Überlebenden zu respektieren und anzunehmen.


Schritt 4: Die Phase der Emotionen wird häufig als Phase der Katharsis missverstanden, in der ein Eintauchen in Gefühle erlaubt wird. Die dabei fehlende Kontrolle kann aber das Überflutetwerden mit unangenehmen Gefühlen und dadurch ausgelöste Übererregung verstärken. Deshalb empfiehlt Perren-Klingler, die Emotionen als Empfindungen auf der Körperebene beschreiben zu lassen. Dieser Schritt beruht auf der Annahme, dass jeder Mensch Emotionen als Gefühle (Empfindungen) im eigenen Körper wahrnimmt und fühlt. Um die bewusste Wahrnehmung von Emotionen zu erleichtern, werden die Eigenschaften auf der Körperebene genau abgefragt (d.h. Wo genau?, im oder an der Oberfläche des Körpers?, Temperatur, Konsistenz, Beweglichkeit, Gewicht, Oberflächenbeschaffenheit, Größe und Form der Empfindung, etc.). In dieser neu aktualisierten Wahrnehmung werden die im traumatischen Geschehen meist abgespaltenen Gefühle häufig zum ersten Mal in kleinen Teilen und damit kontrollierbar bewusst wahrgenommen und dann benannt. Im Idealfall werden so aus chaotisch erlebten und deswegen bedrohlichen und überwältigenden emotionalen Zuständen fassbare und definierbare Gefühle. Durch das Bewusstwerden und die Benennung werden die Gefühle strukturiert und ein Umgang damit ermöglicht.


Schritt 5: Information und Stress Management. Es werden die jeweils präsenten traumabedingten Reaktionen in einem Dialog zwischen Debriefern und Klienten erarbeitet. Neben der Besprechung von Möglichkeiten für eine gesunde Lebensweise und Techniken des Stress Management werden die den jeweiligen Teilnehmenden am besten entsprechenden Techniken eingeübt. Die Erkenntnis, dass die als störend und verrückt erlebten spezifischen Reaktionen normal und natürlich sind und die erlernten Techniken zum Umgang damit wirken entlastend. Der geschilderte fünfte Schritt benötigt viel Zeit, sehr viel Struktur und Systematik, wie auch Flexibilität und ein großes Repertoire an Stress Management Techniken von Seiten der Debriefenden.


Schritt 6: Mit Unterstützung der Debriefenden erarbeitet die Gruppe oder die Einzelnen Personen der Gruppe eine symbolische Handlung, die es ihnen ermöglicht, in einem einmaligen, klar definierten Ritual, einen Schlusspunkt hinter die traumatische Erfahrung zu setzen („Closure“). Durch dieses Abschlussritual, das bezüglich Ort, Zeit, Inhalt und Ausführung genau definiert wird (jedoch nicht im Debriefing stattfindet), wird für die besprochene Erfahrung ein Schluss-Stein gesetzt. Die Erinnerung an die traumatische Erfahrung wird damit abgelegt, jedoch nicht vergessen. Im Ritual wird die Realität des Geschehens bewusst angenommen und gleichzeitig der Vergangenheit anvertraut. In der Ausführung des Rituals wird nochmals an das Geschehene gedacht, allerdings aus der Position des „Nachhers“. Nachdem das Ritual definiert und ein Zeitpunkt für die Durchführung festgesetzt wurde, wird darauf hingewiesen, dass in der zweiten Sitzung über den Verlauf berichtet werden soll.


Schritt 7: Für den Abschluss ist es wichtig, dass ein_e Debriefer_in nochmals eine Zusammenfassung des Debriefingprozesses gibt, in dem die kognitiven und emotionalen Anteile, sowie die genannten natürlichen Reaktionen und ein sinnvoller Umgang mit ihnen nochmals thematisiert werden. Es ist wichtig, dass das Debriefing zu einem veränderten Verständnis, neuen positiven Bewertungen und Interpretationen der Erfahrung führt. Damit entsteht aus der überwältigenden eine bewältigbare Erfahrung, und eine potenziell traumatische Erinnerung kann integriert werden. Zudem eröffnet das Debriefing die Möglichkeit für eine eventuell nötige Trauerarbeit.

(Aus: Perren-Klingler, G.(2000): Debriefing, Erste Hilfe durch das Wort, Hintergründe und Praxisbeispiele.)


Soweit die Theorie. Jetzt versuche ich kurz zusammenzustellen, was ich an Kritikpunkten gehört habe:

  • Einer der Haupt-Streitpunkte unter den „Fachmenschen“ ist, dass in vielen Studien kein hilfreicher Effekt von Debriefing (als Prävention von PTB“S“) nachgewiesen werden konnte. (Studien und Statistiken sind natürlich auch mit Vorsicht zu genießen).
  • Debriefing wird vor allem dort (fast flächendeckend) eingesetzt und finanziert, wo Krankenkassen und Rentenkassen hoffen, spätere Therapiekosten zu sparen und die Menschen möglichst ohne Ausfälle wieder an den Arbeitsplatz zu bringen.
  • Unerfahrene Debriefer_innen können Einzelne Re-Traumatisieren oder Gruppen spalten, wenn sie nicht mit gegenseitigen Schuldzuweisungen innerhalb einer Gruppe umgehen können.
  • Die Theorie geht davon aus, dass alle Menschen von einem Debriefing nach einem potentiell traumatisierenden Ereignis profitieren. Aber dasselbe Ereignis kann für eine Person traumatisierend sein, und für eine andere nicht. Wer beurteilt, welche Ereignisse traumatisierend sind?
  • Es wird nicht berücksichtigt, dass (laut Statistik…) nur etwa ein Drittel der Menschen, die etwas schreckliches erleben danach auch langfristige Folgen entwickeln. Im Debriefing-Konzept wird von vorneherein kein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte vieler Menschen gesetzt. Stattdessen sollen alle das Ereignis hinterher noch einmal detalliert durchsprechen.
  • Debriefing ist eine sehr formalisierte Technik, die sich an einen Zeit- und Ablaufplan hält, und die Unterschiedlichkeiten der einzelnen Menschen nicht berücksichtigen kann. Für manche ist das Debriefing drei Tage nach dem Ereignis vielleicht zu früh.
  • Debriefing geschieht heute meistens nicht freiwillig. Entweder wird es vom Arbeitgeber angeordnet, oder es entsteht ein Gruppendruck, der es für Einzelne fast unmöglich macht, ein Debriefing abzulehnen. (Weil es ja für andere in der Gruppe hilfreich sein könnte).
  • Vertrauen ins Debriefing-Team: Während des Debriefings sollen die Teilnehmenden viel von sich preisgeben. Gleichzeitig gibt es aber weder Zeit noch Gelegenheit, die Debriefenden kennen zu lernen und Vertrauen zu entwickeln.
  • Vertrauen in die Gruppe: Weder in Berufsgruppen, noch in Familien kann einfach davon ausgegangen werden, dass die Einzelnen sich gegenseitig mit Respekt und Wertschätzung begegnen. Die Debriefenden begleiten die Gruppen aber nicht langfristig. Es kommt vor, dass Teilnehmende im Debriefingprozess etwas über sich erzählen, was später von KollegInnen zu Mobbingzwecken genutzt wird. Gerade in Berufen mit viel Konkurrenz oder mit einer ausgeprägten Macho-Kultur (Polizei, Feuerwehr, RettungssanitäterInnen, autonome Szene, etc.) ist diese Gefahr groß. Auch die besten Debriefer können nicht innerhalb von zwei Sitzungen alle Machthierarchien und Gruppendynamiken erkennen und einbeziehen.

Auch im Buch von Perren-Klingler wird auf einige Kritikpunkte eingegangen, allerdings liegt das evtl. auch daran, dass sie (sehr teure) Ausbildungen zum „Debriefer“ anbietet:

„Einer der Gründe, warum manche Fachleute Debriefings als schädlich bezeichnen, könnte sein, dass im Debriefing die Gefahr besteht, zu tief in die Erinnerung an das Ereignis einzutauchen und so der natürliche Prozess der Selbstheilung gestört wird. Als Folge werden traumatische Reaktionen, wie Übererregung, Schlafstörungen, flashbacks und Vermeidung wieder verstärkt. Aus dem gleichen Grund hat das Eintauchen in die Gefühle, zu dem in der Emotionsphase oft ermuntert wird, eine eher schädigende Wirkung. Dies kann nicht in einem kurzen Debriefing aufgearbeitet werden, sondern nur in einer Therapie.

Dies setzt jedoch auch voraus, dass Debriefer geschult und kompetent sind, Debriefings ohne jede emotionale Überwältigung durchzuführen und eventuelle Anzeichen von Retraumatisierungen im Prozess frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. In der Ausbildung von Debriefern muss von daher unbedingt darauf geachtet werden, dass nicht nur das theoretische Konzept des Debriefings vermittelt wird, sondern vor allen Dingen auch, anwendbare Techniken und Methoden zur Durchführung des Debriefings erlernt werden.“


Also, soweit meine (vermutlich unvollständige) Zusammenfassung. Über Ergänzungen und Diskussion würde ich mich freuen.

encapuchada

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