Kopie Thomas Fritz

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Die schweren Krawalle beim EU-Gipfel in Göteborg sowie das rabiate Vorgehen der schwedischen Polizei bis hin zum Schusswaffeneinsatz gegen Protestierende haben auch auf Seiten sozialer Bewegungen eine rege Diskussion ausgelöst. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Verhältnis zu den gewaltbereiten Teilen des Widerstands gegen die Globalisierung. Im folgenden geht es um die Diskussion der Gewaltfrage, wie sie innerhalb sozialer Bewegungen geführt wird, die keinerlei physische Gewalt anwenden, sehr wohl aber gegebenenfalls zivilen Ungehorsam bzw. passiven Widerstand praktizieren. Hintergrund ist die aktuelle Debatte innerhalb des deutschen ATTAC-Netzwerks.

  1. Entgegen der häufig vorgebrachten Behauptung, die militanten Auseinandersetzungen am Rande der diversen Gipfel schadeten den politischen Zielen der globalisierungskritischen sozialen Bewegung, lässt sich empirisch aus Sicht des deutschen ATTAC-Netzwerks festhalten, dass
    1. die Medien in der Bundesrepublik erst aufgrund der Krawalle ein großes Interesse an ATTAC entwickelt haben, was sich z.B. in einer Steigerung der "hits" auf die ATTAC-Homepage und der Mitgliederzahlen niederschlägt;
    2. die Darstellung jenseits der Regenbogenpresse relativ differenziert geworden ist (was sie nicht immer war). Zum Teil wird ATTAC sogar großes Wohlwollen entgegengebracht und ansatzweise werden auch ATTAC-Forderungen transportiert. Daher ist die in dem ATTAC-Diskussionspapier zur Gewaltfrage vorgebrachte Medienkritik ("einseitig", "sensationslüstern") nur teilweise zutreffend.
  2. Vielmehr erscheint ATTAC als Nutznießerin der Ausschreitungen am Rande der Gipfel. Für dieses widersprüchlich-symbiotische Verhältnis zwischen friedlichem und militantem Protest ist ATTAC aber nur ein Beispiel von vielen. Es ist geradezu eine historische Konstante, dass größere soziale Konflikte auch durch gewaltsame Auseinandersetzungen begleitet wurden. Die Legitimität der jeweiligen Forderungen wurde dadurch jedoch nicht zwangsweise unterminiert. So errang die Forderung nach Abschaffung von AKWs trotz der Existenz eines militanten Flügels der Anti-AKW-Bewegung hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Manche behaupten sogar, dies sei eine der Erfolgsbedingungen der Anti-AKW-Bewegung gewesen. Insofern ist die Aussage des ATTAC-Diskussionspapiers, Strategien, die auf Militanz setzen, seien theoretisch falsch und politisch schädlich, zu hinterfragen.
  3. Selbstverständlich kann bedauert werden, dass Gewalt sozialen Bewegungen Aufmerksamkeit verschafft, sie dadurch gelegentlich erst politisch ernstgenommen werden. Angenehmer wäre es, phantasievolle Aktionen oder brillant formulierte Statements brächten Schlagzeilen ein. Das tun sie aber nunmal nur in seltenen Fällen. Das Bedauern über diesen Missstand ist insofern gleichbedeutend mit dem Bedauern darüber, in einem Gesellschaftssystem leben zu müssen, dass derartige und noch wesentlich drastischere Widersprüche am laufenden Band produziert.
  4. Das symbiotische Verhältnis zwischen friedlichem und militantem Protest als solches wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, heißt noch lange nicht, Gewalt gutzuheißen oder gar die eigene Festlegung auf gewaltlosen Protest aufgeben zu müssen. Es heißt aber sehr wohl, sich nicht die Spaltung des Protestes durch den Staat, dessen ideologische Begleitmusiker oder Medien aufzwingen zu lassen. Wie eine solche Spaltung praktisch aussehen kann, hat der WTO-Chef Mike Moore skizziert. Er schlägt einen Verhaltenskodex für Nichtregierungsorganisationen (NRO) vor, der u.a. die Ablehnung von Gewalt beinhaltet. Bei Nichtunterzeichnung könnten Staat, Stiftungen oder Unternehmen die Finanzierung von NRO verweigern. Folgsame NRO würden mit erweiterten Partizipationsmöglichkeiten belohnt. (Hier der Link auf den Text) Diese Strategie ist allerdings weder neu, noch phantasievoll, und wird bei näherer Betrachtung von Förderpraktiken längst exekutiert.
  5. Zwar betont das ATTAC-Diskussionspapier, dass niemand aus der globalisierungskritischen Bewegung a priori ausgegrenzt werden dürfe (Ausnahme Nationalisten und Chauvinisten), faktisch stellt die Existenz dieses Papiers aber, schon allein aufgrund seines öffentlichen Charakters, eine unmissverständliche Distanzierung von militantem Protest dar. Die vermeintliche Intention und die faktische Wirkung stehen in offensichtlichem Gegensatz. Für eine soziale Bewegung hätte es eines solchen Papiers aber gar nicht bedurft. Die Aktionsformen und inhaltlichen Forderungen von ATTAC sind vergleichsweise klar, die Festlegung auf Gewaltlosigkeit ist unumstritten, und auch die Medien zählen ATTAC zu den "gemäßigten" KritikerInnen des Globalisierungswahns. Die Frage ist also unvermeidbar, wem oder was ein solches Papier überhaupt nutzt. Man könnte sich darauf zurückziehen zu sagen, der Diskurs solle angeregt und tiefergelegt oder Orientierungsmarken für Orientierungslose angebracht werden. Alles edle Motive. Die Vermutung, um des guten Rufes willen könnte auch ein Distanzierungsmotiv vorgelegen haben, kann jedoch auch nicht umstandslos ins Reich der Phantasie verbannt werden.
  6. Neben vielen Einzelpersonen und VertreterInnen unterschiedlicher Gruppen, Parteien, Verbände, Gewerkschaften und Kirchen sind Nichtregierungsorganisationen maßgebliche Initiatorinnen und Trägerinnen von ATTAC und seinen Kampagnen. Nach der Gründung des deutschen ATTAC-Ablegers, der anfänglich eher nach einem ExpertInnenNetz für Finanzmarktfragen aussah, wurde sehr schnell von den AktivistInnen der wesentlich dringendere Bedarf nach einer globalisierungs-kritischen sozialen Bewegung geäußert und diese Umorientierung von ATTAC schließlich auch vorgenommen. Dabei scheint aber noch nicht reflektiert worden zu sein, dass die Erfolgsbedingungen von NRO und sozialen Bewegungen sich in mancherlei Hinsicht unterscheiden. Der Erfolg von NRO verdankt sich nicht nur, aber auch einer weitgehenden Akzeptanz auf Seiten der Herrschenden, welche durch wohldosierte, systemkonforme Reformvorschläge begrenzter Reichweite erreicht wurde. Aufgrund ihrer spezifischen Erfolgsbedingungen können NRO im übrigen auch ein besonderes Interesse an einer Distanzierung gegenüber militantem Protest haben. Eine soziale Bewegung wie ATTAC jedoch kann sich nicht die Erfolgsbedingungen von NRO als eigene Grenze setzen und zum Beispiel bei gut verdaulichen Reformvorschlägen stehen bleiben. Das geht schon gar nicht, wenn mit dem Slogan "Eine andere Welt ist möglich" operiert wird. Selbst bei Aufbietung aller Phantasie ist es z.B. unmöglich, mit der Tobin-Steuer auch nur ansatzweise die Vorstellung von einer "anderen" Welt zu unterfüttern. Kurzum, eine soziale Bewegung mit dem Anspruch von ATTAC hat, anders als NRO, gesellschaftliche Alternativen zu thematisieren. Aus dieser Forderung sollte allerdings keine pauschale Diskreditierung von Reformpolitik abgeleitet werden. Sofern Reformen emanzipatorisches Potenzial innewohnt - das ist beileibe nicht bei allen NRO-Reformvorschlägen der Fall - haben sie eine wichtige Funktion bei der Vermittlung von Handlungsmöglichkeiten und -kompetenzen.
  7. Der magische siebte Punkt führt zu der zwangsläufigen Schlussfolgerung, dass die Thematisierung gesellschaftlicher Alternativen ohne radikale Kritik des Bestehenden nicht möglich ist. Eine Wurzelbehandlung des Kapitalismus ist also unumgänglich, und die ist bekanntlich schmerzhaft. Nur, die Notwendigkeit, dass Globalisierungskritik Kapitalismuskritik sein muss, wird mit der wünschenswerten Klarheit fast nur noch von denjenigen formuliert, in deren Kreisen die Militanten vermutet werden. NRO tun das nicht, soziale Bewegungen eher selten und verschämt, gelegentlich trauen sich noch manche versprengten WissenschaftlerInnen oder PublizistInnen. Das ist aber ein Problem. Wenn Kapitalismuskritik nicht aus diesen winzigen Nischen herausfindet und wieder hegemoniefähig wird, bleibt auch die Formulierung gesellschaftlicher Alternativen notwendig begrenzt, widersprüchlich und unzulänglich. Die öffentliche Distanzierung von jenen Nischen ist dabei in jedem Fall kontraproduktiv.

Thomas Fritz, BLUE 21, Juli 2001

Die hier vertretenen Positionen sind diejenigen des Autors.

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